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Russisches Requiem

Russisches Requiem

Titel: Russisches Requiem Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William Ryan
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nach dem Tod passiert - das schließe ich aus dem fehlenden Blutverlust. Was die elektrischen Brandwunden angeht, vermute ich, dass sie ihr vor dem Tod zugefügt wurden, und zwar mit einem dünnen, länglichen Gegenstand. So wie ein Folterknecht vielleicht früher einen glühenden Schürhaken benutzt hat. Sie war mit einem Strick gefesselt und geknebelt. Haben Sie die Risswunden um den Mund und die Abschürfungen an Hand- und Fußgelenken bemerkt? Wahrscheinlich hat sie sich heftig gewehrt. Und es war ein einziger Täter. Und zwar ein Rechtshänder. Sehen Sie die Quetschungen dort?«
    Koroljow nickte und betrachtete die braunroten Abdrücke auf dem Alabasterarm. Die Ärztin erläuterte, inwiefern die Quetschungen nahelegten, dass sie von einer rechten Hand stammten und dass es sich um die bevorzugte Hand des Mörders handelte.
    »Und die Verstümmelungen? Haben Sie eine Ahnung, warum er das getan hat?«
    »Nein, leider nicht. Das müssen Sie ihn wohl persönlich fragen, sobald Sie ihn haben.«
    Koroljow war sich nicht so sicher, dass er den Mann bald fassen würde. Er wandte sich an Gerginow. »Boris Iwanowitsch?« Sein Blick richtete sich auf das Profil des Mädchens. »Wenn wir ein Bild von hier aus machen, sind die Verletzungen kaum zu sehen. Vielleicht finden wir heraus, wer sie war, wenn wir es verbreiten.«
    Gerginow nickte und brachte seine Lampe in Position.
    Draußen in der Leichenhalle knallte eine Tür, dann trat der jüngere Assistent ein, ohne zu klopfen. »Hauptmann Koroljow? General Popow möchte Sie sprechen. Im Büro des Direktors ist ein Telefon. Wenn Sie mir bitte folgen?«
    Wie sich herausstellte, war Popows Anruf nicht weiter wichtig. Er wollte nur hören, ob es etwas Neues gab. Doch die Luft im Büro war angenehm frisch, denn durch ein offenes Fenster wehte kühler Wind herein, der durch die mit Steinen beschwerten Papierstapel auf dem Schreibtisch raschelte. Der Direktor, ein Mann in mittleren Jahren mit einem breiten, intelligenten Gesicht, hatte dem Fenster den Rücken zugekehrt und hörte mit verschränkten Armen zu, wie Koroljow Bericht erstattete. Er lächelte, als Koroljow auflegte, und bot ihm eine Zigarette an. Koroljow akzeptierte und hielt die Hand schützend über das Feuerzeug des Direktors. Er inhalierte den scharfen Rauch tief in die Lunge, um den Geruch des Todes zu vertreiben. Das Nikotin drang in seine Extremitäten vor, und ein plötzlich einsetzendes Schwächegefühl erinnerte ihn daran, dass er seit dem Frühstück nichts mehr gegessen hatte. Einen Augenblick lang genoss er die Empfindung, dann nickte er dem Direktor dankbar zu. Erst als er sich wieder im Autopsiesaal befand, fiel ihm auf, dass sie kein einziges Wort gewechselt hatten.
    Während seiner Abwesenheit hatte Gerginow der Toten Schminke aufgelegt, um die Verletzungen im Gesicht zu verbergen. Diesen Zaubertrick hatte der Fotograf schon öfter angewandt. Beim ersten Mal hatte sich Koroljow über die grellen Farben gewundert, doch auf den Schwarz-Weiß-Bildern wirkte es lebensecht. Tschestnowa half ihm und versuchte, den Kopf mit einem Handtuch abzustützen.
    Er schien locker herabzuhängen und rollte immer wieder zur Seite. Die beiden begrüßten ihn mit einem warmen Lächeln, und Koroljow nahm einen beißenden Geruch wahr.
    Gerginow deutete auf ein Becherglas mit einer klaren Flüssigkeit. »Do-doktor Tsche-tschestnowa hat noch etwas medizinischen Alkohol gefunden, Genosse. Gehört zum Ge-geschäft. Das ist Ihr Glas.«
    »Am besten ist er mit Marmelade. Nur ein Hauch, dann schmeckt er wirklich gut. Leider haben wir gerade keine da.« Dr. Tschestnowa wirkte deutlich beschwingter als vorhin. »Schauen Sie, wie schön wir sie hergerichtet haben.«
    »Ich ha-habe ihr Baumwolle in die Wa-wangen geschoben, und ich finde, jetzt kann sie sich wi-wirklich sehen lassen.« Mit zufriedener Miene betrachtete Gerginow sein Werk. Das Haar der Toten war noch nass, wo die Ärztin es gewaschen hatte.
    »Sie war ein hübsches Mädchen«, bemerkte Koroljow nachdenklich.
    »Ja. So-soll das Auge besser o-offen sein oder geschlossen? Ich ne-nehme sie natürlich im P-profil auf.« Mit dem Daumen zog Gerginow das Lid der Frau hoch und schaute Koroljow fragend an.
    Verunsichert durch den Blick der Toten, schüttelte dieser den Kopf.
    »Ja. Sie ha-haben Recht.« Gerginow schloss das Auge wieder. Als der Kopf richtig lag und die Gesichtszüge zu seiner Zufriedenheit arrangiert waren, griff er nach der Kamera, und der Blitz zuckte zweimal

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