Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Russisches Requiem

Russisches Requiem

Titel: Russisches Requiem Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William Ryan
Vom Netzwerk:
Mäntel und Lederjacken und folgten Stalin nach unten. Einige schienen ein wenig unsicher auf den Beinen, als hätten sie getrunken. Auch sie winkten freundlich und bescheiden: Wozu das Aufheben, Genossen, schließlich arbeiten wir doch alle für die Revolution. Nachdem der Letzte verschwunden war, wollte ihnen die Menge folgen, aber die Tschekisten behaupteten sich und forderten sie auf, geduldig zu sein und den Sowjetführern Platz zu lassen.
    »Zurücktreten, Genossen!«
    Zögernd folgte die Menge den Anweisungen eines Mannes mit Megafon, und die Tschekisten schritten voran. Nun, da Stalin sich entfernt hatte, wandten sich die Menschen einander zu und besprachen eifrig wie die Kinder, was sie gerade erlebt hatten. Koroljow schnappte einzelne Gesprächsfetzen auf, als er weiterging.
    »Groß war er nicht, oder? Aber stark wie ein Ochse.«
    »Ist dir seine Pfeife aufgefallen? Ich rauche selber Pfeife. Was er wohl für eine Marke bevorzugt?«
    Koroljow schob sich an den versammelten Moskauern vorbei, erfüllt vom selben Stolz wie sie über die Entscheidung der politischen Führung, sich unter die normalen Menschen zu mischen.
    Gerade bevor er sich endgültig aus der Menge lösen wollte, packte ihn jemand mit festem Griff am Ellbogen, und er sah sich mit Stabsoberst Gregorin konfrontiert.
    »Hauptmann Koroljow, gehen Sie jetzt erst nach Hause? Der neue Fall hält Sie wohl in Atem.« Gregorin zog ein Zigarettenetui aus der Brusttasche seiner Uniform. Es hatte eine große Delle und ging schwer auf. Als der Oberst sein Interesse bemerkte, klappte er den Deckel wieder zu und tippte auf die kreisförmige Vertiefung. »Eine Kugel. Hat mir das Leben gerettet - jetzt ist es mein Glücksbringer.
    Ohne dieses Etui hätte es keinen lebenden Stabsoberst Gregorin gegeben, nur einen toten Unteroffizier Gregorin. Ich betrachte es als nützliche Erinnerung an die Willkür des Schicksals. Und da erzählen uns die Ärzte, dass Rauchen schlecht für die Brust ist...« Gregorin gluckste über seinen bewährten Witz.
    Koroljow reagierte mit einem verlegenen Lächeln. Der Oberst hatte ihn völlig überrumpelt, und er nahm erleichtert die angebotene Zigarette an, weil er dadurch eine Beschäftigung für die Hände fand. Er kramte nach den Streichhölzern in seiner Tasche.
    Doch Gregorin klappte sein Feuerzeug auf und zog ihn weg von der Menge. »Genosse Stalin hat überraschend beschlossen, die Metro zu besuchen. Natürlich hat er sie schon während ihres Baus besichtigt, aber er wollte sie auch in Betrieb sehen, wie ein gewöhnlicher Bürger. Ein spontaner Einfall, daher wurden wir ganz kurzfristig zu seinem Schutz abkommandiert. Eine große Verantwortung.« Er deutete auf einen schwarzen Wagen, der ungefähr dreißig Meter entfernt geparkt war. »Kann ich Sie nach Hause fahren? Dann müssen Sie nicht laufen.«
    Koroljow nickte. Er hätte gern etwas zur Unterhaltung beigesteuert, aber es hatte ihm schlicht die Sprache verschlagen.
    »Gut. Die Bolschoi-Nikolo-Worobinski-Gasse, nicht wahr? Ach, schauen Sie mich nicht so verdutzt an, schließlich ist es mein Geschäft, dass ich über die Leute Bescheid weiß, die mich aus beruflichen oder persönlichen Gründen interessieren. Ein gutes Haus - Ihre Nachbarn werden Ihnen gefallen. Isaak Babel lebt zwei Stock höher. Kennen Sie ihn? Den Autor? Wenn nein, sollten Sie das Versäumte unbedingt nachholen - heute gehört es zu den Pflichten eines Staatsbürgers, kultiviert zu sein.«
    »Ich habe schon von ihm gehört.« Koroljow erinnerte sich nur allzu gut an die eindringlichen Beschreibungen, mit denen der Schriftsteller den Krieg gegen die Polen geschildert hatte.
    »Wenn Sie möchten, werde ich Sie mit ihm bekanntmachen. Er kann Ihnen vielleicht nützlich sein. Ja, eine gute Idee. Sie werden sich gut mit ihm verstehen, zwei Veteranen des Polenkriegs haben sich bestimmt viel zu erzählen. Vielleicht wird er sogar über Sie schreiben, wer weiß?«
    »Was könnte ein Mann wie Babel an einem bescheidenen Milizermittler wie mir finden, Oberst Gregorin? Und vielleicht darf ich Sie in diesem Zusammenhang auch nach dem Grund
Ihres
Interesses fragen?«
    Als Gregorin die Fahrertür eines schwarzen Emka öffnete, zuckte ein belustigtes Funkeln durch seine dunkelbraunen Augen. Der Oberst strahlte eine unverkrampfte Autorität aus. Das dichte schwarze Haar und die dunkle Haut brachten Koroljow auf den Gedanken, dass er vielleicht wie Stalin Georgier war, obwohl seiner Aussprache nichts anzumerken war. Er war

Weitere Kostenlose Bücher