Russisches Requiem
weder massig gebaut noch groß gewachsen, besaß aber die Haltung eines Athleten.
»Sie unterschätzen sich, Genosse«, sagte Gregorin, als Koroljow im Wagen saß. »Ich habe Sie nicht umsonst für die morgige Vorlesung ausgewählt. Sie sind ein Mann, der Ergebnisse erzielt. Es wird den Studenten gewiss nicht schaden, das eine oder andere von einem erfolgreichen Kriminalermittler zu lernen. Außerdem hat General Popow Sie empfohlen, er hält große Stücke auf Sie.«
»Freut mich zu hören«, antwortete Koroljow.
»Nun, erzählen Sie. Wie läuft es mit dem Fall? Haben Sie schon Fortschritte gemacht?«
»Wir sind noch ganz am Anfang. Im Augenblick haben wir kaum etwas außer ganz vagen Hinweisen. Ich habe aber schon einen ersten Bericht geschrieben, den ich morgen mitbringen werde.«
»Gut. Übrigens ist es ein glücklicher Zufall, dass ausgerechnet Sie mit diesem Fall befasst sind.«
»Warum, Genosse Oberst?«
»Weil ich von höherer Stelle gebeten wurde, die Sache im Sinne der Staatssicherheit zu überwachen.« Der Oberst lehnte sich zurück und stieß einen makellosen Rauchring aus, der einen Moment lang reglos in der Luft schwebte, ehe er sich allmählich auflöste. Gregorin betrachtete sein Werk mit Wohlgefallen.
»Aber weshalb? Es gibt doch in diesem Fall gar keine politischen Faktoren.« Koroljow war verwundert über das Interesse des NKWD für einen schlichten, wenn auch hässlichen Mord. Dann fiel ihm ein, dass das Mädchen vielleicht Ausländerin war. Flüsternd beantwortete er seine eigene Frage. »Oh, aber womöglich gibt es doch einen. Die Tote. Sie hat ausländische Zahnfüllungen, und ihre Kleider ...« Er verstummte. Diese Kleider waren von einer Qualität, wie sie in der UdSSR nicht hergestellt wurde, und er würde sich hüten, diesen Umstand in Gegenwart eines hochrangigen Offiziers der Staatssicherheit offen anzusprechen.
Gregorin beugte sich vor, das Lächeln war aus seinem Gesicht verschwunden. »Was war das mit der Frau? Haben Sie ihre Identität schon ermittelt?«
»Noch nicht, Genosse Oberst, aber wir halten es für möglich, dass sie keine Sowjetbürgerin war.«
Gregorin nickte abrupt und forderte Koroljow mit einem Wink der Zigarette zum Weitersprechen auf. Er hörte ohne Unterbrechung zu, während ihm Koroljow alles erzählte, was er über die junge Frau und die Umstände ihres Todes wusste. »Ist das alles? Sonst noch irgendwas?«, fragte er zuletzt.
»Das ist der bisherige Stand.«
»Sehr interessant. Also hat man sich an höherer Stelle nicht geirrt.«
»Demnach gibt es tatsächlich einen politischen Aspekt?«
»Ja, davon bin ich überzeugt.«
»Aber wenn das so ist, wird doch bestimmt die Staatssicherheit den Fall übernehmen.«
Gregorin blies auf die Spitze seiner Zigarette, und ein orangefarbenes Glühen zog über sein Gesicht. Er wirkte nachdenklich. »Es gibt diesen Aspekt, kein Zweifel. Trotzdem handelt es sich um einen Mord.«
»Das verstehe ich nicht.«
»Das muss Sie auch nicht weiter kümmern. Ermitteln Sie einfach wie in einem ganz normalen Fall. Mehr wollen wir gar nicht. Das Verständnis können Sie ruhig uns überlassen.«
»Aber worin besteht der politische Faktor, Genosse Oberst? Darf ich wenigstens das erfahren?« Koroljow konnte seinen Missmut nicht ganz verbergen.
Im schwachen Licht der Straßenlaternen wirkte Gregorins Mund wie ein gerader schwarzer Strich. Schweigend starrte er Koroljow an, dann entspannte sich seine Miene, und er wandte sich wieder der sich zerstreuenden Menge zu. »Was ich Ihnen jetzt erzähle, ist geheim. Ist das klar?«
»Wie Sie wünschen.« Koroljow fragte sich, worauf er sich da wieder eingelassen hatte.
»Also schön. Ihnen dürfte wohl bekannt sein, dass der Staat laufend um die Beschaffung von Mitteln zur Finanzierung des Fünfjahresplans bemüht ist. Bestimmt stellen Sie wie die meisten Arbeiter einen Teil Ihres Lohns in Form von Staatsanleihen zur Verfügung, um einen Beitrag zum Erreichen der Ziele zu leisten. Alle Bürger haben den Gürtel für das Gemeinwohl enger geschnallt. Und der Plan kommt gut voran.«
Der Gürtel an der glänzenden Lederjacke des Obersts sah nicht aus, als säße er straffer als sonst, doch Koroljow verkniff sich eine entsprechende Äußerung und begnügte sich mit einem Gemeinplatz. »Es ist eine Frage des Überlebens.«
»In der Tat. Und wenn wir den Feinden des Sozialismus standhalten wollen, braucht der Staat auch Geld für den Kauf von Technik und Waffen, damit wir verteidigen
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