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Russisches Requiem

Russisches Requiem

Titel: Russisches Requiem Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William Ryan
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einen abzuholen. Mit einer stillschweigenden Entschuldigung an seine neuen Nachbarn betrat er das Gebäude. Bei jedem Schritt spürte er seine Müdigkeit. Es hatte keinen Zweck, sich über das Gehörte Sorgen zu machen, und so verschob er die Beschäftigung damit auf den nächsten Tag. Vor der Wohnungstür wühlte er in seiner Tasche nach dem Schlüssel, bevor ihm schlagartig einfiel, dass er ihn mittags aufs Bett gelegt und dort vergessen hatte. Innerlich fluchend durchstöberte er noch einmal alle Taschen und warf einen Blick auf die Uhr. Nach zehn Uhr. Hoffentlich war Bürgerin Kolzowa noch wach. Erneut tastete er seinen Mantel ab, dann klopfte er zaghaft und wartete auf eine Antwort, die nicht kam. Er pochte abermals, etwas stärker. Nach kurzer Zeit hörte er in der Wohnung eine Tür, Schritte und eine argwöhnische, doch ruhige Frauenstimme.
    »Wer ist da?«
    »Entschuldigung, Genossin, ich bin es, Ihr neuer Nachbar. Koroljow. Ich habe den Schlüssel heute Mittag vergessen. Auf dem Bett. Ich weiß, es ist schon spät.« Er ahnte, dass hinter den Türen andere Leute lauschten, und senkte die Stimme. »Würden Sie mich bitte einlassen?«
    Langsam öffnete sich die Tür, und er starrte in die schwarze Mündung eines Revolvers. Unwillkürlich wich er einen Schritt zurück.
    »Hauptmann Koroljow?«
    Er hob den Blick von der Waffe und fand sich im Visier von zwei nicht weniger respekteinflößenden blauen Augen, deren Absichten nicht zu erkennen waren. »Ja.«
    Der Revolver senkte sich einige Zentimeter, aber es war keine echte Erleichterung, dass er jetzt auf seinen Unterleib zielte.
    »Ich bitte nochmals um Verzeihung«, stammelte er. Sie war ausgesprochen attraktiv, mit dem schmalen, aber festen Kinn unter rasiermesserscharfen Wangenknochen und dem kurzen, gewellten Haar, das im Licht des Treppenhauses glänzte. Wäre die Waffe nicht gewesen, hätte er ihren Anblick sehr genossen. »Normalerweise bin ich nicht so vergesslich, glauben Sie mir.«
    »Hoffentlich nicht.« Sie musterte ihn von oben bis unten mit einem fragenden Ausdruck, als wäre sie sich nicht ganz sicher, wie er in ihre Welt passen sollte. Langsam entspannte sich ihr Gesicht zu einem Lächeln, das so stark und kompromisslos war wie der Leitartikel der
Prawda.
    Schließlich zog sie die Tür weiter auf, verstaute den Revolver in der Tasche ihres Morgenmantels und streckte ihm die Hand hin. »Genosse Koroljow, es freut uns sehr, einen Beamten der Moskauer Kriminalmiliz als Bewohner unseres Hauses zu begrüßen. Luborow hat mir von Ihnen erzählt. Willkommen. Die Waffe ist nicht geladen. In Moskau muss man vorsichtig sein, selbst hier. Es treiben sich so viele Ganoven herum. Aber das ist bestimmt nicht Ihre Schuld.« Nach ihren hochgezogenen Augenbrauen zu schließen, war sie sich da allerdings nicht so sicher.
    Koroljow zuckte entschuldigend die Achseln und nahm ihre Hand. Es erstaunte ihn nicht, dass ihr Griff stark wie der eines Mannes war. »Danke. Ich hoffe, Sie besitzen einen Waffenschein. Die Strafen sind hoch.« Kaum hatte er die Worte ausgesprochen, hätte er sie am liebsten wieder zurückgenommen. Drohungen waren kein guter Anfang für eine Wohngemeinschaft.
    »Natürlich habe ich einen.« Sie klopfte auf ihre Tasche. Aber die Antwort kam vielleicht eine Spur zu schnell.
    »Natascha«, rief sie über die Schulter in den Gang. »Es ist Genosse Koroljow, unser neuer Nachbar. Komm und stell dich vor.«
    In der Tür hinter ihr tauchte ein kleines Gesicht auf und verschwand sofort wieder. Kolzowa lachte, und ihr Gesicht leuchtete auf, als hätte man einen Schalter umgelegt. Dann wandte sie sich wieder an Koroljow. »Sie ist ein bisschen schüchtern, Genosse, und sie mag keine Uniformen. Tragen Sie die immer?«
    Er schüttelte den Kopf. »Nein, überhaupt nicht. Nur ganz selten. Sonst ziehe ich ganz normale Kleidung an. Nur heute musste ich sie tragen, weil es nicht anders ging. Eine Ausnahme. Sogar die Motten waren schon dran, so lang ist es her, dass ich sie anhatte. Sehen Sie.«
    Er zeigte ihr den Jackenärmel und erntete ein Lächeln, das eher Herablassung als Mitgefühl auszudrücken schien. Ehe er sich beherrschen konnte, schwadronierte er schon weiter. »Ich bin Ermittler, verstehen Sie. Kriminelle. Ich meine, ich bin ein Ermittler, der Kriminelle fängt.« Er legte die Hand an die Stirn und schloss kurz die Augen, in der Hoffnung, woanders zu sein, wenn er sie wieder öffnete. Doch er stand immer noch auf der Schwelle zu seiner neuen

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