Russisches Requiem
Morgen in dieser prächtigen Wohnung erleben ließ. Danach sprach er die Gebete, die er von seiner Mutter gelernt hatte. Zuletzt fügte er noch die Bitte um eine möglichst rasche Steigerung der Seifenherstellung hinzu, was er in seiner Eigenschaft als Gläubiger und als treuer Sowjetbürger für seine Pflicht hielt.
Wie jeden Morgen streifte ihn kurz die Frage nach dem Sinn von Gebeten zu einem Gott, dessen Existenz die Partei bestritt. Aber bisweilen wurde im Rückblick deutlich, dass auch der Partei Irrtümer unterliefen. Man musste sich nur vor Augen führen, wie sie jahrelang diese Natter Trotzki in ihrer Mitte geduldet hatte. Vielleicht täuschte sie sich auch im Hinblick auf Gott. Und falls nicht, war es zumindest nicht verkehrt, vorerst auf Nummer sicher zu gehen.
Mit steifen Gliedern richtete er sich schließlich auf und begann sich zu dehnen. Egal, wo er war und was ihn am Tag erwartete, er versuchte immer, einige Minuten für seine Freiübungen zu erübrigen. Auch wenn er dafür etwas früher aufstehen musste, er hielt sich daran. Nach einigen gymnastischen Verrenkungen ging er zu Liegestützen und Rumpfbeugen über. Er durfte nicht vergessen, in den nächsten Tagen noch seine Gewichte aus der alten Wohnung zu holen. Er beendete sein Programm mit abschließenden Streckübungen, und als er - ein wenig außer Atem - eine angenehme Mattigkeit in den Muskeln spürte, zwang er sich, fünf Minuten auf der Stelle zu traben. Die Fenster ratterten, und die Dielen krachten wie Trommeln. Nach seinem morgendlichen Ritual marschierte er hinüber in die Küche, um sich am Becken gründlich zu waschen; als er sich unterhalb der Taille reinigte, ließ er den Korridor nicht aus den Augen. Das Wasser war erstaunlich kalt, und er musste sich zusammenreißen, um seinem Schock nicht laut Ausdruck zu verleihen. Da jedoch ein kleines Mädchen hier wohnte und er erst eingezogen war, ließ er alles schweigend über sich ergehen.
Frisch rasiert zog er ein Unterhemd an, das schon einmal bessere Tage gesehen hatte, und setzte sich an den Schreibtisch. Draußen verkündete der erste Hahn den Beginn des neuen Tages und empfing sogleich eine Antwort von zwei Artgenossen. Eigentlich war es in Wohngebäuden verboten, Tiere zu halten, aber viele neue Moskauer kamen vom Land und fanden Möglichkeiten, die Beschränkungen zu umgehen. Selbst hier in Kitai-Gorod, dem Viertel der Eliten und Parteikader, gab es also Hühner in kleinen Holzkäfigen auf Flachdächern oder in einer Hofecke. Wenn die Kälte zunahm, wurden sie drinnen untergebracht und liefen überall zwischen ihren ländlichen Besitzern herum, die häufig in Schichten schliefen.
Er schlug sein Notizbuch auf und schrieb: »Ordnung«. Seiner Ansicht nach war eine unordentliche Akte nutzlos. Manchmal musste er in der Petrowka-Straße das Dienstzimmer verlassen, so sehr machte ihm Jasimows schlampige Aktenführung zu schaffen. Er war sich sicher, dass sein Freund bei seinen Ermittlungen häufig nicht den richtigen Täter erwischte. Allerdings argumentierte Jasimow, dass die Verurteilten vielleicht nicht das fragliche Verbrechen begangen, dafür aber bestimmt irgendetwas anderes auf dem Kerbholz hatten. Koroljow schüttelte den Kopf. Er war der Überzeugung, dass Jasimow den richtigen Kriminellen identifizieren musste und Verbrechen nicht einfach wahllos einem Täter zuschreiben durfte, der ihm gerade in den Kram passte.
»Unterabschnitte«, schrieb er als Nächstes, und zwar unter »Ordnung«, da »Unterabschnitte« selbst ein Unterabschnitt war. In einer Spalte, die sich über die halbe Seite erstreckte, setzte er hinzu: »Aussagen«, »Fotografien«, »Beweismaterial«, »Autopsie/ärztlicher Bericht (falls vorhanden)«, »Fingerabdrücke«, »andere forensische Daten«, »Verdächtige«, »Alibis«, »Ermittlungsansätze« und »Sonstiges«. Dann begann er mit seinem Lieblingsthema: »Zweck«.
Nach Koroljows Auffassung hatte eine gute Akte einer mathematischen Formel zu gleichen, aus der so unvermeidlich, wie die Nacht dem Tag folgte, die Lösung hervorgehen musste - vorausgesetzt, die nötigen Informationen wurden in der richtigen Reihenfolge eingetragen. Ihm war bewusst, dass manche seiner Kollegen über ihn lachten, wenn er etwas Derartiges äußerte, doch das änderte nichts an seiner Meinung, dass - Jasimow hin oder her - der Zweck einer Akte wie der jeder Polizeiarbeit darin bestand, die Täter zu überführen und zu fassen, die ein bestimmtes Verbrechen verübt hatten.
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