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Russisches Requiem

Russisches Requiem

Titel: Russisches Requiem Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William Ryan
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Dies konnte einer Akte nur gelingen, wenn sie eine solide Grundlage für logische Schlussfolgerungen bot. Ein fähiger Polizist nutzte die ihm zur Verfügung stehenden Instrumente, um Kriminelle zu verfolgen, damit sie ihrer gerechten Strafe zugeführt wurden. Und ein Gefängnis war nur dann gut, wenn es die Verbrecher so lange in Haft hielt, wie es dem Urteil des Volksgerichts entsprach. Das war sowjetische Logik, vollendet in ihrer Schlichtheit und Geradlinigkeit.
    Noch einmal prüfte er seine Notizen und fragte sich, ob die Fähigkeiten, die er den Studenten vermitteln wollte, möglicherweise auch gegen Unschuldige eingesetzt werden konnten. Jagoda war zu weit gegangen, so viel stand fest, und dafür hatte ihn das Zentralkomitee auch abberufen. Zum Schutz des Staates musste die Partei größte Anstrengungen unternehmen, aber alles in einem vernünftigen Rahmen, und jetzt erwartete man, dass sich die Lage unter Jeschow ändern würde. Doch schon waren Gerüchte lautgeworden, Jeschow habe bei der Amtsübernahme erklärt, dass besser zehn Menschen litten, als dass ein einziger Spion in Freiheit blieb. Wo gehobelt wurde, flogen Späne. Seufzend erhob sich Koroljow vom Tisch und stellte sich zahllose unschuldige Späne auf dem Boden einer Sägemühle vor. Trotzdem, seine klare und übersichtliche Methode der Aktenführung sollte sich zum Wohl der Unschuldigen auswirken.
    Mit diesem frohen Gedanken im Kopf zog er sich vollständig an. Aber das Bild der wahllos niedersausenden Axt wollte ihn nicht verlassen, sosehr er es auch beiseitezuschieben suchte. Schließlich legte er seine Notizen in die Aktentasche und zog leise die Wohnungstür hinter sich zu.
    Als sie gerade sachte ins Schloss gefallen war, vernahm er plötzlich ein Husten. Er fuhr herum und erblickte ein Bündel aus einem schwarzen Wollschal auf drei Beinen, das gefährlich hin und her schwankte. Bei näherer Betrachtung stellte sich das dritte Bein als Gehstock heraus.
    »Sie sind also der
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    »Ment? Das ist aber kein sehr höflicher Ausdruck für einen Milizionär, Bürgerin.«
    »Und was wollen Sie jetzt tun? Mich verhaften? Ich bin dreiundachtzig und war auch schon im Gefängnis. Ist gar nicht so übel dort. Man kriegt gutes Essen, und die Gespräche sind unterhaltsam. Mitunter sogar ziemlich intellektuell.«
    Koroljow schaute sich nach einer Fluchtmöglichkeit um, aber die Frau versperrte den Korridor, und so musste er sich entweder behaupten oder den Rückzug in die Wohnung antreten. Für Letzteres hatte er keine Zeit, daher deutete er auf die Uhr. »Entschuldigen Sie bitte, Bürgerin, ich habe nicht die Absicht, Sie zu verhaften, aber ich muss dringend zur Arbeit.«
    »Zur Arbeit, aha. Dann hören Sie mir mal gut zu, Herr
Ment.
Ich wüsste gern von Ihnen, wie es Ihnen gelungen ist, einen Elefanten diese Treppe hochzuschaffen. Mir fällt es schon schwer, sie selbst zu erklimmen. Der Elefant muss furchtbar gelitten haben.«
    »Elefant?«
    »Genau, ein Elefant. Das erinnert mich an einen Witz über Schafe. Kennen Sie den? Ein paar Schafe wollen die Grenze nach Finnland überqueren. >Vor wem rennt ihr denn davon?<, fragt der Grenzer. >Vor dem NKWD<, antworten die Schafe. >Genosse Stalin hat befohlen, alle Elefanten zu verhaften.< >Aber ihr seid doch keine Elefanten<, meint der Grenzer. >Wir wissen das<, erwidern die Schafe. >Aber versuchen Sie mal, das den Tschekisten klarzumachen.< Gut, finden Sie nicht?«
    Ebendieser Witz hatte Mendelejew einen Aufenthalt in der Zone eingebracht, und Koroljow legte einen Finger auf die Lippen und spähte übertrieben über die Schulter, um sich verständlich zu machen. Die Alte verzog nur angewidert das Gesicht.
    »Meine Freiübungen.« Koroljow hatte endlich begriffen, worauf sie angespielt hatte. »Das war der Lärm. Ich entschuldige mich, falls ich Sie geweckt habe.«
    »Mich geweckt? Mein lieber Herr
Ment,
Sie haben das ganze Haus und wahrscheinlich auch noch die halbe Straße geweckt. Können Sie nicht in einen Turnverein oder etwas Ähnliches gehen, wenn Sie unbedingt diese furchtbaren Übungen absolvieren müssen? Ich dachte schon, der Jüngste Tag ist angebrochen, aber dann ist mir wieder eingefallen, dass Gott ein Hirngespinst primitiver Menschen ist, und so habe ich gefolgert, dass es Elefanten sein müssen. Schade, dass es keine waren - das wären wenigstens interessante Nachbarn. Ich glaube, sie bleiben ein Leben lang zusammen, wie Schwäne.«
    »Ich entschuldige mich noch einmal, Bürgerin. Darf ich

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