Russisches Requiem
schritt voran in einen engen, leeren Gang. »Übrigens, Genosse Hauptmann, ich glaube, ich habe etwas Interessantes für Sie.«
Die Absätze von Gregorins Reitstiefeln knallten wie Pistolenschüsse auf dem Fliesenboden, als ihm Koroljow folgte. Es gab kein natürliches Licht, nur eine ausdruckslose Tür nach der anderen. Er war froh, als Gregorin vor einer anhielt und sie öffnete.
Es war ein großer Raum, bemalt in Verwaltungsbeige und beherrscht von einem gewaltigen Schreibtisch, vor dem auf einem Teppich mit mehreren feuchten Flecken ein Stuhl stand. Auf einem kleineren Tisch an der Seite wartete eine Schreibmaschine, an der wohl bei Verhören ein Protokollführer saß. Koroljow hatte nicht den geringsten Zweifel, welchem Zweck dieses Zimmer diente. Es gab keine Fenster, und alle Lichter richteten sich auf den stabilen Metallstuhl, zu dem ihn Gregorin winkte. Der Oberst nahm hinter dem Schreibtisch Platz und legte Koroljows maschinengeschriebenen Bericht in einen gelbbraunen Hefter aus Karton. Es war die einzige Mappe auf dem Tisch, und sie trug keine Bezeichnung.
Der Oberst stützte das Kinn auf die Hände und fixierte Koroljow. Mit hängendem Finger deutete er auf den Ordner. »Ich habe Ihren Bericht während der Vorlesung studiert. Sehr gründlich.«
Koroljow bewegte sich unruhig auf seinem Sitz und musste daran denken, was wohl aus seinem letzten Inhaber geworden war.
Nach einer Weile seufzte Gregorin und schlug erneut den Ordner auf. Er blätterte und hielt bei der Fotografie der Toten inne, die Gerginow in langwieriger Nachtarbeit entwickelt hatte.
»Wie bereits vermutet, kennen wir das Opfer. Maria Iwanowa Kusnezowa. Geboren am 1. Juli 1913 in Moskau. Eine sowjetische Staatsbürgerin also, zumindest nach unserer Auffassung, auch wenn sie im Alter von sechs Jahren nach Amerika emigriert ist. In den Fabriken ihres Vaters wurden Waffen für die Weiße Armee hergestellt, daher wollte er nicht bleiben, als sich der Krieg zu unseren Gunsten wandte. Natürlich haben wir den Vater weiter beobachtet. Er hatte Erfolg in Amerika und unterhält, wie nicht anders zu erwarten, weiterhin umfassende Verbindungen zu verschiedenen konterrevolutionären Emigrantenkreisen. Von seiner Tochter hatten wir bisher nicht viel gehört, doch letzte Woche ist sie mit einer Besuchergruppe unter dem Namen Mary Smithson in die Sowjetunion eingereist. Kurz darauf ist sie verschwunden, und dadurch kam ihre wahre Identität ans Licht. Smithson ist eine ungefähre Übersetzung von Kusnezowa. Hier ist ihr Visumantrag.«
Koroljow nahm das Blatt, das ihm der Oberst zugeschoben hatte. Auf der ersten Seite starrte ihn eine passgroße Fotografie der Toten an. Ihr Ausdruck war ernst, doch der geschwungene Mund deutete darauf hin, dass sie gern gelächelt hatte. Ihr Haar war kurzgeschnitten, fast wie bei einem Mann, und ihre Augen schienen trotz der Schwarz-Weiß-Aufnahme hellblau zu strahlen.
»Wissen die Amerikaner schon, dass sie tot ist?« Er gab dem Oberst den Antrag zurück.
»Wahrscheinlich nicht, zumindest haben wir noch keine Anfrage vorliegen. Und solange es geht, soll das auch so bleiben. Wenn sie sie als vermisst melden, überlegen wir uns, wie wir die Sache handhaben, aber bis dahin muss Stillschweigen bewahrt werden. Völliges Stillschweigen. Sie sind ermächtigt, General Popow von ihrer Identität zu unterrichten, aber niemanden sonst.«
»Ich verstehe. Wie sieht es mit meinem Assistenten aus, Leutnant Semjonow?«
»Er ist noch sehr unerfahren ...«
»Ja, aber ein Komsomol-Mitglied und zudem sehr zuverlässig. Ich lege die Hand für ihn ins Feuer.«
Gregorin musterte Koroljow, als würde er ein kompliziertes Problem studieren. »Sie übernehmen die volle Verantwortung?«
»Ja. Er ist ein guter Junge.«
»Dann überlasse ich es Ihrem Ermessen.«
Koroljow setzte eine verbindliche Miene auf. Er empfand das Misstrauen des Obersts als Beleidigung für seinen Kollegen. Immerhin war Semjonow Milizbeamter und kannte seine Pflichten. Es war unangebracht von Gregorin, etwas anderes anzudeuten.
Gregorin begann sich mit einem Brieföffner sorgfältig die Fingernägel zu reinigen. Koroljow fiel auf, dass die Hände des NKWD-Offiziers leicht zitterten und dass an beiden die Knöchel rot und teilweise aufgeschürft waren. In der entstandenen Pause dachte Koroljow über das Gehörte nach. Die Sache gefiel ihm nicht. Die Untersuchung des Mordes an einer Ausländerin - schlimmer noch, einer Amerikanerin - konnte für ihn zu ungeahnten
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