Russisches Requiem
begegnen, und dann, zack, eines Morgens ist die Wohnung mit rotem Wachs versiegelt, und man bleibt für immer verschwunden. Ich habe mir das alles längst überlegt. Wenn man geholt wird, wird man eben geholt. Aber man sollte ihnen nicht auch noch dabei helfen.«
Koroljow starrte ihn ungläubig an.
Doch Babel beschäftigte sich bereits mit der anstehenden Frage. »Ah, ich weiß schon, wen ich da ansprechen muss. Ein anständiger Kerl, gute Beziehungen in der Organisation, arbeitet aber nicht in vorderster Linie. Ich kenne ihn aus dem Krieg. Mit ihm kann ich von Mensch zu Mensch reden, und alles bleibt unter uns.«
»Wäre wohl besser so«, knurrte Koroljow.
Babel grinste ihn amüsiert an. Ihre Schritte knirschten durch den Kies, als sie wieder zum Eingang des Instituts strebten. Sanitäter luden Tragen aus einem Lastwagen. Anscheinend war für morgen eine sehr authentische Übung geplant.
Der Fahrer war ohne Ankündigung
zu ihm gekommen. Ein Auftrag, der umgehend erledigt werden musste, und er sollte ihn unterstützen, falls nicht alles nach Plan lief. Wobei von einem Plan eigentlich nicht die Rede sein konnte. Der Mann hatte einen zur Hälfte mit Schutt beladenen Lastwagen, mit dem innerhalb kürzester Zeit ein Unfall inszeniert werden sollte. Aber er folgte dem Befehl und kletterte auf den Beifahrersitz. Sie durchquerten die Stadt und parkten schließlich an der Straße. Der Fahrer führte ein Telefongespräch. Als er zurückkehrte, reichte er ihm eine Fotografie und erklärte, was zu tun war.
»Es dauert nicht mehr lang.« Der Fahrer blickte auf die Uhr.
Nach einer Weile war ein Wagen durch das Tor auf der anderen Straßenseite gebogen, und der Mann am Steuer hatte ihnen zugenickt. Dann, fünf Minuten später, kam ein anderer Wagen heraus - ein ramponierter Ford -, dem sie zunächst aus einiger Entfernung folgten. Er war bestimmt kein Heiliger, bei Gott. Was er getan hatte, konnte an niemandem spurlos vorübergehen. Aber das hier roch schlimmer als alles Bisherige. Viel schlimmer.
Er durfte sich nicht beklagen. Am Anfang hätte er ablehnen können, vor vielen Jahren. Es wäre keine Schande gewesen. Aber er wusste, dass früher oder später jemand Ja sagen musste, und so hatte er es auf sich genommen im Namen der Zukunft; in Erwartung einer neuen Gesellschaft, in der es kein Verbrechen gab, in der die Arbeiter und Bauern der Welt in glücklichem Tun zusammenfanden, in der Krieg und Ausbeutung der Massen nur noch in Geschichtsbüchern existierten. Matt vor Übelkeit blickte er hinüber zum Fahrer. Wenn sich das hier als nicht autorisierte Operation erwies, konnte er nur genau die Rechtfertigungen vorbringen, die er bei Staatsfeinden immer als lächerliches Gewäsch abgetan hatte. Er hatte nicht vorgehabt, etwas Falsches zu tun; andere hatten ihn in die Irre geführt; er hatte geglaubt, im Interesse der Partei zu handeln. Da war es besser, gleich ganz zu schweigen.
Es war wirklich eine Tragödie. Er hatte gelernt, für das kollektive Wohl zu arbeiten. Der Einzelne ist schwach, so hieß es immer, aber das Kollektiv ist eine starke Macht, die die Geschichte verändern kann. Doch jetzt stellte sich heraus, dass er die ganze Zeit als egoistischer Individualist gehandelt und das Kollektiv verraten hatte. Natürlich hatte er die Möglichkeit, die Ratten zu verpfeifen, aber es war keine echte Möglichkeit, denn man würde auch ihn erschießen. Oder ihm fünfundzwanzig Jahre in der Zone aufbrummen, was aufs gleiche hinauslief. So lange konnte niemand in der Zone überleben. Er wusste, wie es dort zuging. Die Männer, die im Schnee schliefen und am Morgen aneinandergefroren aufwachten, falls sie die Nacht überstanden hatten.
So weit die Theorie, aber das hier war die Realität. Denn natürlich würde er es kaum bis zum Lager schaffen, die anderen Seks würden sich schon im Zug über ihn hermachen. Sie würden den Lubjanka-Keller an ihm riechen, und er würde mit einem Loch an der Stelle aufwachen, wo vorher seine Kehle war. Und sein Sohn? Vielleicht half ihm Gott, falls der Schurke noch lebte, aber sonst bestimmt niemand. Mit Glück würde der Junge halb verhungert und verlaust in einem Waisenhaus landen. Wahrscheinlicher war allerdings, dass man ihn tot unter einer Brücke finden würde - einer von vielen namenlosen Knirpsen, die in die Verbrennungsanlage geworfen wurden. Das war die Logik, die sowjetische Logik. Er war ein Verräter, und seine Familie wurde ausgelöscht; sie hörte auf zu existieren, und sein
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