Russka
gehört uns.« Sie sprach immer noch nichts. Schweigen erschien ihr stärker als jedes Wort.
Der Alane ließ den Blick nicht von Lebed. In ein paar Jahren würde dieser Junge ein Krieger sein, vielleicht ein Pferd wie Trajan reiten. Er würde einer von ihnen, den strahlenden Alanen, sein, deren Kampftaktik selbst die Römer kopiert hatten. Hatte nicht kürzlich erst Mark Aurel seine Versuche aufgegeben, sie zu überwältigen? Und waren die Römer nicht froh über ihre Unterstützung gegen die wilden Parther gewesen? »Der Junge gehört uns«, wiederholte er mit fester Stimme.
Kiy sah erst den Alanen, dann seine Mutter an. Ob der Alane vorhatte, ihn zu töten? Wenn es so wäre, dann würde es wohl jetzt geschehen. Und wenn nicht – was würde aus ihm werden? Würde er seine Mutter nie wiedersehen? Heiße Tränen stiegen ihm in die Augen. Bei den Wagen kam Bewegung auf. Die Männer rüsteten zum Aufbruch. Der Alane ließ seinen Blick über die Steppe wandern. Lebed blieb, wo sie war.
Der dunkle Skythe fixierte sie. Das Dorf muß wirklich ganz nah sein, dachte er. Er hatte immer noch große Lust, es zu überfallen. Doch er sagte leise: »Machen wir uns auf den Weg, mein Bruder.« Der Alane zögerte. Es würde eine lange Reise werden, und der Junge, den sein Blutsbruder gefangen hatte, sollte bald ein neues Leben beginnen. Außerdem wollte er dem Kleinen etwas Liebes tun, um seine Mutter zu beruhigen. So ritt er näher, nahm ein kleines Amulett von seiner Brust und hängte es dem Kind um den Hals. Es war ein Talisman des Zaubervogels Simrug, dessen Augen in verschiedene Richtungen blicken – eines in die Gegenwart, das andere in die Zukunft. Dann nickte der Alane dem Skythen zu, und die beiden wendeten ihre Pferde.
Kiy wand sich heftig im unnachgiebigen Arm des Skythen und blickte zurück. »Mama!«
Lebed bebte am ganzen Körper. Mit jeder Faser wollte sie auf den Reiter zustürzen, aber sie wußte, daß er sie niederschlagen würde. Sie mußte sich vollkommen still verhalten – vielleicht gab es dann noch Hoffnung.
Die Reiter waren schon etwa dreißig Schritte entfernt. »Mama!« rief der Junge wieder.
Lebed bewegte sich noch immer nicht. Nun waren es siebzig, dann hundert Schritte. Sie sah das kleine runde Gesicht mit den übergroßen Augen; es wirkte blaß über dem dunklen Pferd, das ihr Kind mit sich forttrug.
Die Karren kamen nun auch in Bewegung und rumpelten, von den übrigen Reitern begleitet, hinter ihnen her.
Sie hatte still gebetet, seit sie die Männer erblickt hatte, und sie hörte auch jetzt noch nicht auf damit. Sie rief den Gott der Winde an, den Gott von Donner und Blitz, den Sonnengott, den Gott der Rinder, die Mutter Erde. Sie betete zu allen Göttern, die ihr einfielen. Doch der Himmel blieb leer, blau, und gab ihr keine Antwort. Sie senkte den Kopf in schweigendem Nachgeben. Wenn es ihr Schicksal sein sollte, so würde sie sich fügen.
Als die Männer einen kleinen Hügel hinauf ritten, wandte der Alane sich noch einmal um: Er betrachtete die winzige Gestalt, die hinter ihnen hersah, und plötzlich empfand er Mitleid mit ihr, denn auch er hatte in diesem Jahr seinen einzigen Sohn verloren. Als der Skythe hörte, was sein Blutsbruder zu ihm sprach, leuchteten seine Augen. »Zweimal heute, sagtest du, mein Bruder, ich solle nicht fragen, als ich das Dorf überfallen wollte. Doch da du weißt, daß ich dich liebe, kannst du alles von mir verlangen, es sei dein. Haben wir denn nicht gemeinsam die Spitzen unserer Schwerter in den Blutskelch getaucht? Habe ich nicht bei Wind und Krummsäbel geschworen, dein zu sein in Leben und Tod?« Er reichte den Jungen dem Alanen. »Er gehört dir.« Dann wartete er. Mit einem feinen Lächeln antwortete der Alane: »Mein treuer Bruder, du bist weit gezogen mit mir, um meinen Großvater zu ehren, du hast alles getan, was ich von dir erbat, nicht nur heute, sondern immer. Und nie hast du eine Gegenleistung verlangt. Deshalb bitte ich dich jetzt, verlange ein Geschenk, damit ich dir meine Liebe beweisen kann.« Er wußte, daß es an der Zeit war für eine Gegengabe, und er wußte auch, was es sein würde. »Mein Bruder«, antwortete der Skythe ernst, »ich bitte dich um Trajan.«
»Er sei dein!« Die Worte schmerzten, doch zugleich spürte der Alane Stolz in sich. Ein solches Pferd wegzugeben – das war in der Tat die Geste eines edlen Mannes. »Einen letzten Ritt mit ihm«, sagte der Alane fröhlich. Ohne zu warten, wendete er das Tier, und mit dem
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