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Russka

Russka

Titel: Russka Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edward Rutherfurd
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die Tore zu öffnen. Auch die Einwohner von Russka und von Sumpfloch waren geteilter Meinung. Viele Jüngere glaubten, durch diese Aktion könnten die Bauern befreit werden: Die Bobrovs würden gehängt und das Land den Bauern zurückgegeben, dachten sie. Unter den Älteren herrschte eher Pessimismus. »Diese Rebellen werden wie ein Schwarm Heuschrecken über uns herfallen«, meinte einer. Niemand wußte genau, wo die Rebellen sich befanden: jenseits der Wolga, bei Niznij Novgorod oder gar schon diesseits der Oka? Von ihrem Anführer, dem kühnen Kosaken Stenka Razin, glaubten manche, er werde eines Tages in Moskau regieren wie ein echter Zar.
    In all diesem Durcheinander hatten sich die Kinder in Sumpfloch einen neuen Zeitvertreib ausgedacht: Ein stilles, ernstes sechzehnjähriges Mädchen war die Zielscheibe ihres Spottes. Die Kinder stellten Arina immer die gleiche Frage: »Arina, ist Stenka Razin wirklich dein Vater? Kommt er, um uns zu retten?« Es tat ihr weh, daß sie nicht wußte, wer ihr Vater war. Niemand wollte es ihr sagen.
    Lange hatte sie gedacht, es sei der Verwalter, denn schließlich lebte sie ja bei ihm. Er war immer streng und sah mürrisch aus, und wenn er sie auch bisweilen auf seine Knie setzte, spürte sie doch, daß er sie nicht liebte. Als Arina fünf Jahre alt war, starb er, und sie zog mit ihrer Großmutter, der alten Elena, in die große isba ihres Onkels. Bald danach sagte ein Mädchen zu ihr: »Dein Vater war ein Kosak.« Als sie ihre Großmutter danach fragte, antwortete diese nur: »Welch ein Unsinn!«
    Doch Arina zweifelte nun. Sie fühlte sich anders als die anderen. Die Kinder kicherten und tuschelten über sie. Als sie sieben Jahre alt war, eröffnete Elena ihr schließlich: »Der Verwalter war nicht dein Vater. Es war ein Kosak. Aber sprich nicht darüber.« Ein Kosak? Sie hatte nie einen gesehen, aber sie hatte gehört, daß es wilde, schnurrbärtige Gesellen seien, die auf ihren kahlgeschorenen Köpfen nur eine winzige Haarlocke trugen. Sie ritten über die Steppe wie die Tataren.
    Erst ein ganzes Jahr später wagte Arina zu fragen: »Wie hieß denn mein Vater?«
    »Ich weiß nicht. Und es ist ja auch gleichgültig.« Die alte Elena schien gereizt. »Er ist wahrscheinlich tot; und selbst wenn er noch lebt – du wirst ihn niemals sehen.« Als sie Arinas Enttäuschung sah, fügte sie freundlicher hinzu: »Sei nicht traurig darüber, mein Täubchen, hier hast du die Familie, die du brauchst, Gott sei Dank.« Tatsächlich war neben ihrem Onkel, dem Bruder ihrer Mutter, fast das halbe Dorf mit ihr verwandt. Nein, sie hatte keinen Grund, sich einsam zu fühlen, fand Arina.
    Das Leben im Dorf war oft hart; die Bauern waren es gewöhnt, Not zu leiden. Zweimal in ihrem kurzen Leben hatte Arina bereits Mißernten erlebt, die sie an den Rand des Hungertodes gebracht hatten. Einmal kam die Nachricht, ein riesiges Wolfsrudel von drei- oder viertausend Tieren sei in die Stadt Smolensk im Westen eingedrungen und hätte die Straßen nach Nahrung durchsucht. Doch das größte Elend war der Krieg. Das Kämpfen schien kein Ende zu nehmen. Wie zu befürchten war, brach ein neuer Krieg mit Polen aus, als der Zar die Ukraine unter seinen Schutz gestellt hatte. Dreizehn Jahre lang verließen jedes Jahr junge Männer Russka und traten in die Armee des Zaren ein; viele kehrten nicht zurück. Für das Städtchen war es ein Unglück, daß Nikita Bobrov eine gute Partie gemacht hatte. »Er hat jetzt noch mehr Besitz«, jammerte Elena. »Was macht es ihm schon aus, wenn unsere Männer fallen? Es interessiert ihn nicht.«
    Tatsächlich schickte Nikita in seinem Eifer, dem Zaren zu Gefallen zu sein, in großzügiger Weise Leibeigene aus diesem Ort, den er selten aufsuchte, in den Krieg. Sie mußten unter ausländischen Offizieren dienen, die oft das Kommando in der Armee des Zaren übernahmen.
    Und doch war trotz dieser allgemeinen Schwierigkeiten Arinas Familie ungeschoren davongekommen. Aus unerfindlichem Grund war ihr Onkel nicht in den Krieg geschickt worden. Und glücklicherweise wurden auch seine drei Söhne nicht geholt, obwohl sie das entsprechende Alter erreicht hatten. Die Familie kam zu bescheidenem Wohlstand. Arinas Onkel war der einzige Mann im Dorf, der bei den Bobrovs mit der Pacht nicht in Verzug war. Schließlich entdeckte Arina, daß ihr Onkel den Verwalter bestach. Sie war entsetzt. »Ist das nicht etwas Schlechtes?« fragte sie die alte Elena. »Vielleicht«, antwortete diese, »aber sei

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