Russka
neue Ideen schnell Fuß fassen können, während die Dinge in dem unermeßlichen Umland sich nur allmählich ändern. Die Reaktion des Hinterlandes auf Vorgänge im Zentrum erfolgt wie ein verspätetes Echo.
Mögen Historiker noch immer über die Anfänge jenes Umbruchs diskutieren, der das Ende des alten Moskauer Staates bedeutete – für viele Moskauer gilt 1653 als das entscheidende Jahr, und zwar infolge der Kirchenreformen des mächtigen Patriarchen Nikon.
Die russisch-orthodoxe Kirche hatte während der Jahrhunderte, in denen sie von der restlichen Christenheit abgesondert war, einen eigenen Geist und eigene Kultpraktiken entwickelt, die von den übrigen orthodoxen Kirchen abwichen. Beispielsweise wurden an bestimmten Stellen der Messe zwei Hallelujas statt drei gesungen, und auch die Anzahl der Abendmahlbrote und der Kniebeugen war unterschiedlich.
Die auffälligste Differenz bestand in der Art der RussischOrthodoxen, sich zu bekreuzigen. Im Unterschied zu den Katholiken, die zuerst Stirn und Brust, darauf die linke und schließlich die rechte Seite der Brust berühren, führen sie die Hand von rechts nach links; außerdem schließen sich Daumen mit Ringfinger und kleinem Finger zusammen, so daß nur Zeige- und Mittelfinger gestreckt bleiben.
Dieses »Zweifingerzeichen« war nach Meinung der Russen die reine und wahre Art, das Kreuzzeichen zu machen. Dies nun wollte im Jahre 1653 der Patriarch Nikon ändern; daneben plante er Korrekturen der Texte und der Liturgie.
Außerhalb der Hauptstadt ließ er ein großes Kloster errichten und nannte es Neu-Jerusalem; der Fluß, an dem das Kloster lag, wurde in »Jordan« umbenannt. In dem nüchtern-strengen Klosterbau sah Nikon fünf Throne vor, auf denen eines Tages nach seiner Vorstellung alle fünf Patriarchen der orthodoxen Kirche Platz nehmen sollten, der russische in der Mitte.
Sein Drang nach Macht wurde ihm jedoch zum Verhängnis. Zar Aleksej, der häufig auf Kriegszügen war, hatte dem Patriarchen für die Zeit seiner Abwesenheit Amtsgewalt übertragen und ihm sogar den Titel eines Groß-Souveräns verliehen. Doch als Nikon anregte, Patriarch und Kirche sollten Machtbefugnis über den Zaren und den Staat haben, stieß er bei Aleksej und den Bojaren auf Widerstand und mußte schließlich ins Exil gehen. Doch auch wenn seine Herrschaft zu Ende war, seine kirchlichen Reformen, die er gegen konservative Opposition mit unerbittlicher Härte durchgesetzt hatte, blieben bestehen. Der große Kirchenrat kam 1666 zu dem Schluß, Nikons Reformen zu belassen. Anstelle des traditionellen Zweifingerkreuzes sollte von nun an das Dreifingerkreuz gemacht werden. Wer sich gegen die Neuerungen wehrte, sollte als Ketzer exkommuniziert werden. So zeichneten sich allmählich die große Spaltung der russischen Gesellschaft – bekannt als raskol oder Schisma – und die Entwicklung einer bisher nicht vorhandenen wichtigen Gruppe ab. Im 19. Jahrhundert wurde sie unter dem Begriff der »Altgläubigen« bekannt. Zunächst allerdings bezeichnete man sie, mit dem üblichen Namen für religiöse Dissidenten, als raskolniki, Schismatiker. Mitunter wurde behauptet, die Reformer verkörperten den Fortschritt, während die raskolniki bildungsfeindliche Priester seien, unterstützt von ungebildeten Bauern. Das war aber nicht der Fall. Zu den Oppositionellen gehörten viele gebildete Kaufleute und wohlhabendes Landvolk.
Die raskolniki hatten im übrigen ein Argument, das die Reformer nur schwer widerlegen konnten. »Wenn Moskau, wie die Kirche es lange Zeit behauptet hat, das Dritte Rom ist, nach dem bekanntlich kein weiteres mehr kommen wird – wie kann das, was die Kirche bisher gelehrt und praktiziert hat, plötzlich falsch sein? Steht es uns an zu sagen, daß der Ritus der russischen Heiligen und die vom großen Kirchenrat unter Ivan dem Schrecklichen bestätigte Liturgie ketzerisch waren?« Da die Kirche immer mehr auf die Macht der Tradition als auf Textanalysen oder logische Beweise gebaut hatte, wogen diese Einwände besonders schwer. Das waren die Auseinandersetzungen im Herzen Rußlands. Niemand konnte wissen, welches Echo irgendwann einmal aus dem Hinterland kommen würde.
1670
Es war Sommer. Das gewöhnlich ruhige Städtchen Russka befand sich in heller Aufregung: Die Rebellen waren im Anzug. Die Mönche, unschlüssig, auf welche Seite sie sich schlagen sollten, suchten Rat beim Abt, doch auch dieser wußte nicht, was besser war: das Kloster zu verteidigen oder dem Feind
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