Russka
betrachtet hatte. Nun endlich verstand er die merkwürdige Niedergeschlagenheit, die ihn bei der Überquerung der Belgoroder Festungslinie in der Steppe überfallen hatte. Und als er an das sonnige, offene Land der Ukraine, an die ungebärdigen Kosakenbauern, an die freien Städte Kiev und Perejaslavl dachte, die sich immer noch unter westlichen Gesetzen selbst regierten, schüttelte er nachdenklich den Kopf. »Falls der Zar die Ukraine unter seine Fittiche nehmen will«, meinte er, »muß er unserem Volk größere Rechte als diese garantieren.« Jetzt war die Reihe an Nikita, den Kopf zu schütteln. »Wir wissen, daß die Ukraine andere Sitten hat, die respektiert werden«, versicherte er. »Aber Ihr werdet wohl verstehen, daß der Zar keine Verträge mit euch schließt, wenn er euch unter seinen Schutz nimmt. Das ist unter seiner Herrscherwürde. Ihr müßt Vertrauen in seine Güte und sein Verständnis haben.«
»Der König von Polen hat Verträge mit uns unterzeichnet«, widersprach Andrej.
»Der König von Polen ist lediglich ein gewählter Monarch.« Nikita lächelte verächtlich.
»Kosaken sind keine Knechte«, betonte Andrej. »Und unser frömmster, rechtgläubigster und sanftmütigster Zar ist von Gott dazu bestimmt, uns alle so zu behandeln, wie es ihm beliebt«, entgegnete Nikita fest.
Die leichte Spannung, die nun zwischen den beiden lag, löste Nikita durch ein Lachen. »Nun, mein Kosak, Ihr seid willkommen auf meinem bescheidenen Hof. Ich habe meinem Verwalter aufgetragen, Euch in meinem Haus unterzubringen und sich um Euch zu kümmern. Es tut mir leid, daß ich nicht selbst mitreisen kann.« Er schwieg eine Weile. »Übrigens«, fügte er mit einem Seitenblick hinzu, »ich weiß, daß ich mich darauf verlassen kann, daß Ihr meine Bauern, ob Männer oder Frauen, nicht von Eurer Kosakenart überzeugt.«
Er wußte also doch Bescheid. Andrej sah verlegen zu Boden. Man kann in Moskau nie sicher sein, was die Leute wissen und was nicht, dachte er.
Russka. Der Frühling hatte in der kleinen Stadt und im Kloster Einzug gehalten. Als sie sich dem Ort näherten, kamen sie aus dem Wald auf offene Felder. In der Flußmitte war das Eis bereits geschmolzen; am Ufer knieten die Frauen auf Brettern und wuschen die Wäsche in Eislöchern.
Andrej war erleichtert, daß die seltsame Reise nun zu Ende ging. Marjuschka und der Verwalter fuhren in einem leichten zweirädrigen Wagen, während Andrej ritt. Der Verwalter war ständig schlecht gelaunt. Ab und zu wollte er Andrej in ein Gespräch verwickeln, dieser jedoch hielt sich höflich auf Distanz, ebenso machte er es mit Marjuschka.
In Russka wurde Andrej in Nikitas Haus nahe der Kirche untergebracht, während der Verwalter mit seiner Frau nach Sumpfloch zurückkehrte. Unterwegs maulte Marjuschka: »Ich habe keine Lust, den verdammten Kosaken zu bedienen.«
»Du tust, was man dir sagt«, herrschte er sie an. »Wenn der Herr befiehlt, daß ich mich um ihn kümmere, dann tun wir das auch. In zwei Tagen ist er ja wieder weg.«
Am nächsten Tag besichtigte Andrej Sumpfloch. Das Dörfchen war in seinen Augen nicht anders als die feuchten Weiler, die er unterwegs gesehen hatte. Ob es hier noch Verwandte von ihm gab? Niemand schien etwas über seinen Großvater zu wissen, der achtzig Jahre zuvor von hier entlaufen war, bis Andrej eine alte Frau traf. Sie hatte gehört, daß ein junger Mann in den verwilderten Feldern verschwunden war. Das sei schon ein paar Jahre vor ihrer Geburt geschehen, erzählte sie. Ein Nachkomme von Karps Schwester wohnte am Dorfende. Und so stand Andrej schließlich vor einem stämmigen, freundlich dreinblickenden Burschen mit dichten schwarzen Locken. Er lebte mit vier Kindern in einer massiven Hütte. Als sie Andrejs Geschichte hörten, begrüßten ihn alle freundlich, und er erfuhr, daß er, Andrej, mit vielen Dorfbewohnern, auch mit Marjuschkas Mutter, entfernt verwandt war. »Und du bist frei, du hast deinen eigenen Hof, du bist kein Leibeigener?« wollte der Verwandte von Andrej wissen. Es war Andrej fast unangenehm, das zu bestätigen. Der Besuch des Klosters war dagegen die reine Freude. Die Mönche und die Handwerker in Russka malten immer noch Ikonen. Stolz präsentierte einer der Mönche Andrej eine Miniaturikone in leuchtenden Farben mit üppiger Goldverzierung; sie zeigte eine Muttergottes in der Manier der Stroganov-Meister. »Und hier ist eine schöne, wie man sie heute in Moskau schätzt. Sie ist für eine Kirche des Zaren
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