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Russka

Russka

Titel: Russka Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edward Rutherfurd
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slawischer Herkunft. Demnach bin ich ein halber Slawe, dachte Ivan oft. Aber was bedeutet das eigentlich? Er wußte, daß es sich um eine große Völkerschaft handelte. Durch die Jahrhunderte waren die Slawen in viele Länder gewandert. Die Polen im Westen waren Slawen, die Ungarn und Bulgaren zum Teil. Obwohl ihre Sprachen sich von der Ursprache entfernt entwickelt hatten, konnte man Ähnlichkeiten heraushören. Aber waren sie wirklich eine Rasse? Es war schwer zu sagen. Selbst im Land der Rus gab es viele Stämme. Diejenigen im Süden hatten sich längst mit den einströmenden Menschen der Steppe vermischt. Die im Norden waren teils Balten und Litauer; die Stämme im Osten hatten sich allmählich mit den finno-ugrischen Waldbewohnern vermischt.
    Seine Mutter ging wieder. Noch einmal blickte Ivanuschka den Stern unverwandt an. Einige Priester meinten, er bedeute das Ende der Welt. Natürlich wußte er, daß das Ende der Welt einmal kommen würde – aber doch noch nicht jetzt!
    Er dachte an den Prediger, den er einen Monat zuvor gehört und der ihn tief beeindruckt hatte. »Die Slawen sind zwar erst spät in den Weinberg unseres Herrn zur Arbeit gekommen«, hatte der Priester gesagt, »aber lehrt uns das Gleichnis nicht, daß jene, die als letzte kommen, den gleichen Lohn bekommen wie jene, die vorher da waren? Gott hat Seinem Volk, den Slawen, die ihn zu Recht preisen, ein großes Schicksal bestimmt.« Diese Worte hatten es ihm angetan. Schicksal. Vielleicht ging ihm dieser Begriff deshalb so häufig durch den Kopf, weil sein Leben vor großen Entscheidungen stand. Ivanuschka betete darum, daß der Tag des Jüngsten Gerichts nicht kommen möge, bevor er die großen Taten vollbringen konnte, zu denen er sich berufen fühlte. Es war kein guter Tag für Igor gewesen. Das Verlobungsversprechen, das er für Ivanuschka gesichert zu haben glaubte, war geplatzt. Er wußte nicht einmal, warum. Die Familie des Mädchens – eine sehr angesehene – hatte plötzlich einen Rückzieher gemacht. Es war eine herbe Enttäuschung!
    Ivanuschkas Vater war eine hohe, beeindruckende Gestalt. Er hatte eine lange, gerade Nase, tiefliegende Augen und einen sinnlichen Mund. Das Fremdländische seiner Erscheinung wurde noch betont durch den Gegensatz zwischen dem tiefschwarzen Haupthaar und dem grauen Spitzbart. An einer Halskette trug er eine kleine Metallplatte, auf der das alte tamga seiner Sippe eingeritzt war: der Dreizack. Igor stammte von den strahlenden Alanen ab. Igors Vater hatte sich einem bedeutenden Kriegerfürsten der Rus in den Feldzügen jenseits des Don angeschlossen, und da er gut gekämpft hatte, wurde er sogar in den Rat des Fürsten, die druzina, berufen. Mit jenem Kriegerfürsten kam Igors Vater in das Land der Rus. Hier heiratete er ein adeliges skandinavisches Mädchen, und nun diente Igor, der Sohn der beiden, seinerseits in der druzina des Fürsten von Kiev.
    Igor war aber nicht nur Krieger, sondern auch Geschäftsmann. In Kiev gab es viel, womit ein Mann Handel treiben konnte. Da war das Korn aus der reichen Erde dieses südlichen Landstrichs, das in die Städte in den großen Wäldern des Nordens geschickt wurde. Da waren die Pelze und Sklaven, die man flußabwärts nach Konstantinopel verfrachtete. Aus Böhmen kam Silber, und aus den fernen Ländern noch weiter im Westen kamen fränkische Schwerter. Aus Polen und den westlichsten Provinzen der Rus stammte das lebenswichtige Salz. Und aus dem Osten, entweder auf dem Wasserweg oder mit Karawanen über die Steppe, gelangten alle Arten kostbarer Waren zu ihnen: Seide, Damast, Juwelen und Gewürze. Das Handelsimperium des Landes der Rus war gewaltig. Im Norden lag Novgorod, weiter südlich, am Oberlauf des Dnjepr, lag Smolensk und westlich davon Polock. Oberhalb von Kiev lag Tschernigov, und darunter, als letzter Außenposten am Rand der Steppe, Perejaslavl. Jedes dieser Handelszentren, daneben auch andere, hatten eine in die Tausende gehende Bevölkerung. Schätzungsweise dreizehn Prozent der Einwohner waren im Handel und im Handwerk beschäftigt. Auf dem weiten Land lieferte wie eh und je Jagd und einfache Landwirtschaft den Lebensunterhalt. Nach der geplatzten Verlobung hatte Igor gehofft, die abendliche Zusammenkunft im Haus seines Partners werde seine Laune bessern. Er hatte eine Karawane über die Steppe nach Südosten geplant. Dort, jenseits des großen Don, wo das Kaukasische Bergland sich zum Schwarzen Meer niedersenkt, lag auf der Halbinsel die alte

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