Russka
Siedlung der Rus: Tmutorokan. Gegenüber, auf der breiten Halbinsel Krim, die sich von der Mitte der Nordküste ins Meer vorschob, gab es ausgedehnte Salzflächen. In den vergangenen Jahren hatte ein mächtiger Stamm von Plünderern, die Kumanen, den Handel mit Tmutorokan geschwächt, doch, wie Igor gesagt hatte: »Wenn wir eine große Ladung Salz zurückbringen, können wir ein Vermögen machen.«
Im Frühsommer sollten einige Ladungen zu einem kleinen Handelsposten mit einer Festung namens Russka am Rand der Steppe gebracht werden, wo sein Partner ein Lagerhaus hatte. Von dort sollte sich die Karawane mit einer bewaffneten Eskorte auf den Weg machen. »Ich wünschte, ich könnte selbst mit dir reisen«, meinte Igor. »Doch da dies nicht möglich ist: Könntest du meinen Sohn Ivanuschka mitnehmen?«
Der Mann, der Igor gegenübersaß, zögerte. Er war einige Jahre jünger und etwas kleiner als sein Partner und recht stämmig. Er hatte ein schweres Kinn und eine große gebogene türkische Nase. Seine Lider hingen schwer über den schwarzen Augen. Er hatte dichtes schwarzes Haar und einen schwarzen, keilförmig gestutzten Bart. Auf dem Hinterkopf trug er ein Käppchen.
Zhydovyn, der Chazare, gehörte einem seltsamen Volk an. Es waren türkische Krieger, die jahrhundertelang die Herrschaft über ein Steppenreich ausübten, das sich von der Wüste am Kaspischen Meer bis nach Kiev erstreckte. Als der Islam den Mittleren Osten überschwemmte und über die Kaukasische Bergkette auf die große Eurasische Ebene vordringen wollte, stellten sich ihm die mächtigen Chazaren zusammen mit den Georgiern, Armeniern und Alanen an den Bergpässen entgegen.
Das Imperium der Chazaren war nun untergegangen, aber immer noch durchquerten Kaufleute und Krieger dieses Stammes die Steppe von ihrem fernen Stützpunkt in der Wüste aus, und in Kiev gab es eine große Handelsgemeinschaft der Chazaren. Von allen ihm bekannten Karawanenführern über die Steppe vertraute Igor keinem mehr als Zhydovyn. Nur eines bedauerte er: Zhydovyn war Jude. Alle Chazaren waren Juden.
Igor wurde nervös. Warum zögerte der Chazare so lange mit der Antwort? Er kannte den Jungen doch recht gut! Die Antwort war einfach: Zhydovyn hatte seine Bedenken. »Ivanuschka ist sehr jung. Wie wäre es mit einem seiner Brüder?« Igors Augen wurden schmal. »Du lehnst also ab?«
»Natürlich nicht.« Der Chazare sah unschlüssig drein. »Wenn du es unbedingt möchtest…«
Nun plötzlich war Igor verlegen. Unter normalen Umständen hätte er Zhydovyn gesagt, daß es sein Wunsch sei und deswegen zu geschehen habe. Doch jetzt fand er sich in einer höchst peinlichen Lage. Der Chazare war ein hervorragender Menschenkenner – offenbar traute er Ivanuschka nichts zu. Einen Augenblick lang fühlte Igor Ärger gegen seinen jüngsten Sohn. Er nahm ihm übel, daß man ihn für einen Versager halten konnte. »Du hast recht«, sagte er schließlich und stand auf. »Er ist zu jung.« Doch das Thema war nicht wirklich abgeschlossen. Als Igor das Haus des Chazaren verließ, wandte er sich noch einmal um: »Sag mir, was hältst du von Ivanuschka – von seinem Charakter?«
Zhydovyn war der Junge keineswegs unsympathisch. »Er ist halt ein Träumer«, meinte er leichthin.
Auf dem Heimritt dachte Igor über Ivanuschka nach. »Ein Träumer«, hatte der Chazare gesagt. Igor wußte, wie die Brüder den Jüngsten nannten. Svjatopolk nennt ihn Dummkopf, dachte er traurig. Was soll man mit einem Dummkopf nur anfangen? Drei Tage später verschwand der rote Komet, und es gab in jenem Winter kein weiteres Zeichen am Himmel.
Frühling. Zu Beginn eines jeden Jahres überschwemmte der Fluß dieses fruchtbare Land. Kiev, die Stadt am Wasser. Gleich würden sie sie sehen. Das lange Boot bewegte sich gleichmäßig den breiten ruhigen Dnjepr hinab. Vier Mann bedienten das Ruder. Ivanuschka und sein Vater standen am Heck; der Mann hatte den Arm um die Schultern des Jungen gelegt.
Ivanuschkas hellbraunes Haar war nach Pagenart geschnitten. Er trug ein einfaches Leinenhemd und Hosen, darüber einen braunwollenen Kaftan, denn der Morgen war noch kalt. Die Füße steckten in grünen Lederstiefeln.
In der Morgendämmerung hatten sie die Reusen inspiziert. Jetzt kehrten sie zum Frühstück in die Stadt zurück. Und danach… Ivanuschka spürte eine starke Erregung, denn dies war ein wichtiger Tag.
Er sah zum Vater auf. »Du hast das Blut mächtiger Krieger in deinen Adern«, hatte Igor ihm oft
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