Russka
manchmal genannt. Sie bauten ein riesiges, von Norden nach Süden reichendes Handelsnetz auf, holten Waren im slawischen Novgorod im Norden und fuhren mit ihren Schiffen Dnjepr, Don und Wolga hinunter. An der Schwarzmeerküste errichteten sie in der Nähe der Don-Mündung eine Handelsniederlassung, die als Tmutorokan bekannt wurde. Ob es nun ihr helles Haar oder die Tatsache war, daß sie mit hellhäutigen Alanen in jenen südlichen Regionen Handel trieben oder Seite an Seite kämpften – diese seeräuberischen nordischen Kaufleute wurden in der zivilisierten südlichen Welt bald mit dem alten iranischen Namen »Rus« belegt, der noch heute von einigen Alanen geführt wird und, wie schon erwähnt, »hell« oder »leuchtend« bedeutet. Und so wurde der Staat Rußland geboren.
Der Junge stand hoch oben auf den Palisaden und starrte auf den großen roten Stern. Seine Gedanken gingen wild durcheinander. Tief unter ihm im Dunkel lag der breite Dnjepr. Das Eis am Flußufer spiegelte das blutrote Licht des Gestirns schwach wider. Hinter dem Jungen lag das stille Kiev.
Vor nahezu zwei Jahrhunderten war diese alte slawische Stadt am Dnjepr zur Hauptstadt des Staates der Rus geworden. Es war der Knotenpunkt für den gesamten Handel aus den nördlichen Wäldern, flußabwärts zum fernen Schwarzen Meer und noch weiter.
Was kann der Stern uns ankündigen? Der Junge überlegte. Gewiß war er ein Zeichen Gottes. Denn das Land der Rus war inzwischen christlich geworden. Im Jahr des Herrn 988 wurde Vladimir, der Fürst von Kiev, getauft. Es hieß, zwei seiner Söhne, Boris und Gleb, hätten es ihm gleichgetan.
Kiev war nun eine Kirchenstadt. Die Straßen waren erfüllt vom Gesang der Mönche und Priester aus hundert Kirchen, und das Gold der behäbigen byzantinischen Kuppeln auf den größten Gotteshäusern glänzte warm in der Sonne. »Eines Tages«, so forderte der Adel, »werden wir wie Zargrad selbst sein.« So nämlich nannten sie Konstantinopel oftmals.
Was bedeutete der Stern für ihn, den Jungen? Das kommende Jahr würde vielleicht das wichtigste seines Lebens werden. Er war zwölf Jahre alt. Er wußte, daß der Vater nach einem Fürstenhof Ausschau hielt, in dessen Dienst er treten könnte; außerdem war auch die Rede von seiner Verlobung. Aufregender noch war die Tatsache, daß sein Vater in ebendiesem Sommer eine Karawane durch die Steppe nach Osten senden würde. Seit Wochen bettelte der Junge um die Erlaubnis, dabeisein zu dürfen. Dann wollte er den ganzen Weg bis an den großen Don reiten. Nach seiner Rückkehr wollte er lernen, ein Krieger zu werden, nahm er sich vor. Wie sein edler Vater.
Er war derart in seine Gedanken versponnen, daß er seine zwei Brüder nicht kommen hörte. »Wach auf, Ivanuschka, du schlägst ja noch Wurzeln!« Der Junge hieß eigentlich Ivan, doch rief man ihn mit der Verkleinerungsform. Er wandte den Blick nicht von dem Stern. Er wußte, daß seine Brüder ihn necken wollten. Der Jüngere, Boris, war ein blonder, gutmütig aussehender Bursche von sechzehn Jahren, der Ältere, Svjatopolk, hatte ein langes ernstes Gesicht und dunkles Haar. Er war achtzehn und bereits verheiratet. Sie versuchten vergeblich, Ivan zur Heimkehr zu bewegen, und entfernten sich wieder.
Es war bereits die vierte Nacht, in der Ivanuschka den roten Stern beobachtete, und er widersetzte sich allen Versuchen, ihn nach Hause zu holen. Er war ein verträumter Knabe, der oft lange Zeit bewegungslos und gedankenverloren auf eine Stelle starrte und dabei leise lächelte.
»Ivanuschka!« Das war nun Olga, seine Mutter. »Dummer Junge! Deine Hand ist ja eiskalt.« Er spürte, daß sie ihm einen Pelzmantel überstreifte. Während seine Augen auf den Stern gerichtet blieben, fühlte er den Druck ihrer Hand. Schließlich wandte er sich lächelnd nach ihr um.
Zwischen Mutter und Sohn bestand ein starkes Band. Stundenlang konnte er neben ihr am Feuer in ihrem großen Holzhaus sitzen und ihr zuhören, wenn sie die Geschichten der Kriegshelden oder die Märchen von der Hexe Baba Jaga und dem Feuervogel im Wald erzählte. Manchmal lasen Mutter und Sohn die Heiligen Bücher miteinander, beugten sich eifrig über die kühnen Unzialen, entzifferten die slawischen Worte des Neuen Testaments und der Apokryphen. Olga war groß und schlank, hatte ein zartes Gesicht und volles dunkelbraunes Haar. Sie stammte aus der Familie großer Anführer des ehemaligen Slawenstammes der Severjanen. Die Mutter war also, im Gegensatz zum Vater,
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