Russka
erzählt. »Giganten in der Schlacht, glänzende Reiter wie mein Vater und dessen Vater vor ihm. Unsere Vorfahren waren stark, ehe die Chazaren kamen, in Zeiten, als die Berge noch jung waren. Denke daran: Du bist einer von ihnen; sie sind immer um dich. Und eines Tages wirst du all das weitergeben an deine Söhne und jene, die danach kommen.« Heute, dessen war Ivanuschka sicher, würde seine Laufbahn beginnen, er würde seinen älteren Brüdern und seinem Vater als Krieger, als bogatir, folgen.
Sanft glitt das Boot in der Strömung dahin. Sie hatten nun die Stadt im Blick, und Ivanuschka stieß einen kleinen Seufzer aus: Wie schön ist Kiev!
Die Stadt bestand aus drei Hauptteilen. Da war zunächst, am Nordrand auf einem bescheidenen Hügel, die wehrhafte alte Zitadelle. Innerhalb hoher Holzpalisaden befanden sich der Fürstenpalast und die große Kirche, achtzig Jahre zuvor vom heiligen Vladimir selbst gegründet: die Zehnt-Kirche. Daneben erhob sich, nach Südwesten zu, die neue Zitadelle, erbaut vom großen Sohn Vladimirs, Jaroslav dem Weisen. Außerhalb davon zog sich ein anderes Areal zum Fluß hinunter. In dieser Vorstadt, dem podol, lebten die kleineren Kaufleute und Handwerker. Unten am Fluß endlich lagen die Anlegestellen, wo die Mastschiffe vertäut waren. In den beiden Zitadellen bestanden die größeren Gebäude aus Backstein. Im podol war alles, außer ein paar Kirchen, aus Holz errichtet. Die Stadt war umgeben von hübschen dichten Laubwäldern, die selbst an den hohen, steilen Abhängen am Fluß wuchsen.
Überall glitzerte nun die Morgensonne auf goldenen Kreuzen, und die flachen Goldkuppeln leuchteten auf. Die große Stadt lag wie ein riesenhaftes strahlendes Schiff auf den Wassern. Denn der Fluß hatte das niedrige linke Ufer überschwemmt, wie an zahllosen anderen Stellen des ausgedehnten Wassernetzes des Dnjepr. Glitzernd bedeckte er die Felder, versorgte sie mit seinem Wasser und dem fruchtbaren Schlick. Jedes Frühjahr erstand durch diese wunderbare Überflutung alles neu.
Während sie der Stadt näher kamen, konnte der Junge seine Erregung kaum noch verbergen. Erst vor einer Woche hatte Igor zu ihm gesagt: »Es ist an der Zeit, daß wir entscheiden, was mit dir geschehen soll. Ich nehme dich mit zu Vater Lukas.« Das war eine ungeheure Ehre. Vater Lukas war der geistliche Berater seines Vaters, und Igor traf keine wichtige Entscheidung, ohne sich mit ihm zu besprechen. Er besuchte ihn immer allein.
Kein Wunder, daß Ivanuschka sehr aufgeregt war, als sein Vater ihm das sagte. Immer wieder hatte er sich die Szene ausgemalt: Der gütige alte Mann – er stellte sich ihn groß, mit wehendem weißem Bart, einem breiten, engelgleichen Gesicht, Augen wie Sonnen vor – würde sogleich sehen, daß er einen jungen Helden vor sich hatte. Er würde ihm die segnenden Hände auflegen und erklären: »Es ist Gottes Wille, Ivan, daß du ein edler Krieger wirst.« Igor überlegte. Tat er das Richtige? Er glaubte es, obwohl er dabei war, den Sohn zu hintergehen.
Es erfüllte Ivan immer mit tiefem Glück, wenn er seine Familie zusammen wußte. Jetzt waren sie alle im Hauptraum des großen Holzhauses versammelt. Das Sonnenlicht strömte durch die Fensterscheiben, die nicht aus Glas, sondern aus durchscheinendem Silikat waren.
Auf dem Tisch standen noch die Reste des Frühstücks. An einer Wand befand sich ein großer Ofen. Gegenüber hing eine kleine Ikone mit der Darstellung des heiligen Nikolaus, davor ein irdenes Lämpchen. In der Mitte des Raumes saß auf einem schweren Eichenstuhl die Mutter.
»Nun, Ivanuschka, bist du bereit?« Ihr kostbares, tiefrosa Brokatgewand reichte bis zu den Knöcheln. Der Gürtel war von Goldfäden durchwirkt, die Ärmel waren weit, die schlanken Arme, die daraus hervorsahen, waren von weißer Seide umhüllt. An einem Handgelenk trug sie einen mit Amethysten besetzten Reifen. Die Ohren schmückten perlenbesetzte Ohrgehänge, den schlanken Hals eine Kette, an der ein goldener Halbmond glänzte. So kleideten sich die adligen Damen der Rus, wie die griechischen Damen im kaiserlichen Konstantinopel.
Ihre Hand ruhte graziös auf dem geschnitzten Löwen an der Armlehne. Wie hübsch ihr Gesicht war, wie lieb! Und doch wirkte es ein bißchen traurig. Warum war sie wohl traurig? Auch seine beiden Brüder waren kostbar gekleidet, in Gewänder mit Gürteln und Zobelkragen. Svjatopolk hatte seine bleiche, hübsche polnische Braut mitgebracht. Ivanuschka bewunderte beide, und er
Weitere Kostenlose Bücher