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Russka

Russka

Titel: Russka Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edward Rutherfurd
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lassen. Jeder Russe wußte das. Die rebellierenden Mönche im Soloyjetskij-Kloster waren bis auf den letzten Mann niedergemetzelt worden. Seither waren viele Gemeinden ausgerottet worden.
    In Sumpfloch ging man sogleich ans Werk. Einen Tag nachdem die beiden Fremden eingetroffen waren, überzogen die Bewohner das Kirchendach mit Pech. Dann füllten sie die Unterkirche mit Stroh. Auch in die Kirche wurden Strohballen gelegt. Unter Daniels Anleitung wurden Holzverkleidungen für die Kirchenfenster angefertigt, die Treppe zum Haupteingang wurde zerstört. Nach einem Tag emsiger Arbeit war alles vorbereitet: Sie wollten sich selbst verbrennen.
    Dieses rituelle Selbstopfer war unter den raskolniki weit verbreitet. Es wurde überall in Rußland, vor allem im Norden, vollzogen, und seit 1660 starben Zehntausende auf diese Weise, manchmal aus freiwilligem Märtyrertum, manchmal, um einem schlimmeren Schicksal durch die Behörden zu entgehen. Marjuschka beobachtete die Vorbereitungen. Sie war neun Jahre alt, und natürlich war sie schon mit dem Tod in Berührung gekommen. Aber wie war es zu sterben? Würde es sehr weh tun? Was bedeutete das: Nicht mehr dasein? Ihre Eltern würden bei ihr sein, und das war ein tröstlicher Gedanke. Sie würden einander an den Händen halten. Die Liebe war sicher stärker als der Tod. Die Bewohner versammelten sich im Gebet und warteten auf das, was kommen würde.
    Andrej und Pavlo ritten schnell. Nach drei Tagen kamen sie in die Nähe des Ortes. Andrej war aufgeregt. Es war seltsam, daß er nun, gegen Ende seines Lebens, die Stätten seiner Jugend wiedersehen würde. Das Schicksal spielte doch ein merkwürdiges Spiel mit ihm. Vater und Sohn nahmen an, daß Prokopios Bobrov sich des unseligen Verwalters, der zuviel wußte, bereits angenommen habe. »Töte ihn und wirf ihn ins Moor«, hatte Andrej vorgeschlagen. »Keiner wird nach ihm fragen, und wenn, sag einfach, er sei weggelaufen.« Was die Mission in Russka betraf, blieb er unerbittlich. »Keiner von euch Bobrovs darf sich dem Ort nähern. Ihr wißt von nichts. Wir erledigen das für euch.«
    Wenn es stimmte, daß die Dorfbewohner nichts von Eudokias Funktion wußten, mußte der Plan gelingen. Die Folterer durften nicht bis zu Daniel und seiner Familie vordringen. Es durfte keine Geständnisse geben. Sie würden sie töten. Der Himmel war bedeckt. Es herrschte eine drückende Gewitterschwüle, als die Dorfbewohner sich zur Ruhe begaben. Die kleine Marjuschka konnte nicht schlafen.
    Wie jede Nacht schlüpfte sie auch heute hinaus und stand im Dunkel am Fluß. Während sie so stand und nach Norden sah, vergingen zwei Stunden. Da plötzlich kam ein Boot flußabwärts aus Russka, von einem Jungen mit größter Anstrengung gerudert. »Sie kommen«, schrie er, »Soldaten!« Marjuschka lief rasch ins Dorf zurück.
    Andrej und Pavlo hatten sich verirrt. Der alte Kosak war überzeugt, daß Russka irgendwo flußabwärts lag, aber in den vielen Jahren hatte er vergessen, wo genau der Ort sich befand. Spätabends gaben sie schließlich auf und schlugen das Nachtlager auf. Kurz vor der Morgendämmerung wurden die beiden Männer plötzlich von Stimmen und trampelnden Füßen geweckt. Im Nu sprangen sie auf und griffen zu ihren Waffen. Andrej beruhigte die Pferde, Pavlo beobachtete und lauschte.
    Die Laute kamen von der anderen Flußseite. Im matten Sternenschein sah Pavlo marschierende Soldaten. Zwei Männer, wahrscheinlich Offiziere, sprachen leise miteinander. In der Stille waren ihre Worte zu verstehen. »Du mußt sie unbedingt noch in der Dämmerung kriegen. Wir haben das ganze Dorf, bevor die überhaupt wissen, daß wir da sind.«
    Das Getrappel der Füße ging weiter. Pavlo schätzte die Gruppe auf vierzig bis fünfzig Mann. Er wartete, bis sie vorbeigezogen waren. Es war keine Sekunde zu verlieren. Die beiden Männer sattelten ihre Pferde und ritten flußabwärts davon.
    »Wir folgen dem Flußlauf auf dieser Seite und überqueren ihn erst, wenn wir sie überholt haben«, sagte Andrej. Daniel ging von Haus zu Haus und weckte die Bewohner. Es war noch dunkel, vor Morgengrauen, und sie kamen verwirrt, verängstigt heraus.
    Marjuschka stand in dem Häuschen und beobachtete ihre Mutter. Die ganze warme Nacht über hatte sie nur ein Leinenhemd getragen, aber jetzt erst begann sie am ganzen Körper zu zittern. Arina wirkte vollkommen ruhig. Beim Schein einer Wachskerze kleidete sie sich rasch an und schlüpfte in ihre losen Bastschuhe. Um die Schultern

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