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Russka

Russka

Titel: Russka Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edward Rutherfurd
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nördlichen Breiten die Tage so lang, daß selbst die drei Stunden einer sogenannten Nacht nur blasses Zwielicht waren, während am Horizont Aurora tanzte. Alles hatte mit der Peterund-Pauls-Festung begonnen. Dann mußte auf Anordnung des Zaren dort eine Stadt entstehen, und zwar auf Sumpfland. Unmengen von Holzstützen wurden in den weichen Boden getrieben. Kanäle wurden gezogen. Es war, als wolle Peter in dieser verlassenen Gegend ein zweites Amsterdam errichten lassen. Doch anders als im reichen Holland breiteten sich hier keine fruchtbaren Felder, sondern karges, unwirtliches Marschland aus. Keine Viehweiden, dafür Wildnis, aus der die Wölfe auf der Suche nach Nahrung bis in die Stadt vordrangen. Hierher nun hatte man drei Jahre zuvor Marjuschka gebracht. Sie fand es schrecklich.
    Was hatte Peter dazu veranlaßt, hier eine neue Stadt zu bauen und sie zu seiner Hauptstadt zu machen? Wäre der Nordische Krieg erfolgreicher verlaufen, hätte einer der bedeutenden Ostseehäfen Rußlands Hauptstadt werden können; dieser Krieg jedoch hatte sich unter Schwierigkeiten hingezogen, und Peter hatte es eilig, wie immer. So bestand er, entgegen allen Ratschlägen, auf dem Bau der Stadt an dieser wenig einladenden Stelle. Im Jahre 1708 bestimmte er all seine hohen Beamten, hier zu leben. Im Jahr darauf übersiedelte er zwangsweise die Bewohner ganzer Ortschaften in die wachsende Stadt. Die wehrhafte Festung war fertiggestellt. Am gegenüberliegenden Flußufer erhob sich die Admiralität – eine riesige befestigte Schiffswerft mit einem hohen hölzernen Turm in der Mitte. Zahlreiche Gebäude aus Backstein und Naturstein wuchsen auf den sumpfigen Ufern in die Höhe: Kirchen, Paläste, Lagerhäuser. Der berühmte Architekt Domenico Trezzini, ein Mann italienischer Herkunft, hatte alle Hände voll zu tun.
    Es gab zwei Hauptprobleme: Im umliegenden Land gab es nur wenige Bäume, die kompakte Stützen lieferten, und Steinbrüche waren nicht vorhanden. Alles mußte von zumeist Hunderte von Meilen entfernt liegenden Häfen herbeigeschafft werden. An einem kühlen Frühlingstag in St. Petersburg schritt Prokopios Bobrov, einen dicken Wollumhang über der Uniform, rasch einen schlammigen Weg an der Neva entlang. Er war allein. Von Zeit zu Zeit blickte er sich um. Er wollte nicht von Marjuschka gesehen werden.
    Es war in der Tat ein Ärgernis, daß sie ihn, gerade als er sie schon loszusein glaubte, in eine solch peinliche Lage gebracht hatte, aber sie hatte ihn derart inständig gebeten… Marjuschka! Alle waren gut zu ihr. Sie konnte sich in dieser Hinsicht nicht beklagen. Die ersten Jahre lebte sie friedlich bei den alten Bobrovs in Moskau. Nach der Katastrophe in Sumpfloch regierte Nikita zu Hause mit eiserner Faust. Kein Wort durfte über die raskolniki fallen. Die Familie besuchte die offizielle Kirche. Selbst Eudokia war so mitgenommen, daß sie das verbotene Thema nicht einmal unter vier Augen dem kleinen Mädchen gegenüber erwähnte. Nach Nikitas Tod sprach die alte Frau gelegentlich liebevoll über Marjuschkas Eltern, aber das war auch alles. Dann starb Eudokia, und Prokopios nahm das Mädchen zu sich.
    Er wollte sie nicht bei sich haben, aber er hatte seiner Mutter versprochen, sich bis zu ihrer Heirat um sie zu kümmern, und so kam sie in Prokopios' großes Haus in der neuen Stadt an der Neva. Wie sehnte Marjuschka sich nach Russka und nach Sumpfloch! Aber dort war ja niemand mehr.
    Als die Bobrovs all ihre Bauern dort verloren hatten, wollten sie Familien von ihren anderen Besitzungen in dem Dörfchen ansiedeln. Immerhin hatten sie nach Prokopios' Ansicht immer noch genügend Seelen, und doch waren es zu wenige. Schuld daran war Zar Peters endloser Krieg. In mehr als zwei Jahrzehnten konnte sich das Volk nur einige Monate des Friedens erfreuen. Alle Bevölkerungsschichten waren von den dauernden Kriegen betroffen.
    Adel, Kaufleute, Bauern – das ganze riesige Land wurde durch die hohen Kosten ausgeblutet.
    Als nun die Bobrovs Jahr für Jahr ihre Verwalter aufforderten, Leute nach Sumpfloch zu schicken, erhielten sie stets die Antwort, alle verfügbaren Männer seien den Rekrutierungsoffizieren überstellt worden.
    Was also sollte Prokopios mit Marjuschka anfangen? Andrej, der Kosak, hatte etwas Geld hinterlassen; das Mädchen sollte eine Freie sein. Prokopios wollte sie eigentlich an einen Handwerker oder jemanden aus dieser Schicht verheiraten. In der Zwischenzeit hatte sie bei Prokopios' Frau als Dienstmagd

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