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Russka

Russka

Titel: Russka Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edward Rutherfurd
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Mannes gedrängt worden, der dem Ausgang zustrebte. Er hob sie auf, klemmte sie sich unter seinen mächtigen Arm, und draußen ließ er sie einfach los. »Wo ist Daniel?« rief Andrej.
    »In der Kirche«, war die Antwort. »Was habt Ihr mit ihm vor? Wer seid Ihr?«
    Andrej überlegte sich eine Antwort, als ein Schrei vom Dach her kam: »Die Truppen! Ich sehe sie!« Und da waren sie.
    Andrej blickte hoch und sah eine große Gestalt eine Leiter heruntersteigen. Nach Nikita Bobrovs Beschreibung mußte das Daniel sein. Offensichtlich befand er sich in höchstem Zorn. »Los, steigt wieder hinauf«, schrie er die Leute an. »Hinauf mit euch, ihr Narren! Das ist eine Falle.« Mit wütendem Blick auf die beiden Kosaken lief er zum Eingang der Unterkirche. »Legt das Feuer!« brüllte er. »Schnell, die Truppen sind schon da!« Die Leute stiegen erneut die Leitern hoch. »Weiter, und verrammelt die Tür.«
    Andrej hörte einen Ruf vom Stadttor her. Die Soldaten zogen ein. Er blickte Pavlo an. »Gehen wir besser kein Risiko ein«, murmelte er.
    Er trieb sein Pferd an und sprengte mit gezogenem Säbel auf die Kirche zu. Die Flammen schlugen bereits an der Seite des Gebäudes hoch. Andrej sah, wie die Leitern hochgezogen wurden, und hörte, wie man die schweren Türen verriegelte. An der einzigen verbliebenen Leiter traf Andrej auf Daniel. Dieser wandte sich um und sah den Kosaken mit erhobenem Säbel auf sich zukommen; doch dieser hielt plötzlich inne und rief: »Mein Gott, das ist ja unser Bär!«
    Und während die beiden Männer einander anstarrten, erschien über ihnen eine bleiche Frau und schrie auf. Andrej blickte in die Richtung, in die sie deutete, und zum zweitenmal war er wie gelähmt. Um Marjuschka drehte sich alles. Aber endlich wußte sie, wohin sie zu gehen hatte, denn nun sah sie die Flammen. Dorthin ging sie, zu den freundlichen Flammen, zur Kirche, zu ihren Eltern. Warum nur stand die Kirche nicht still?
    »Marjuschka!« Das war die Stimme ihrer Mutter. Und da war auch ihr Vater bei der Leiter, und ein Reiter neben ihm. Sie schrie und wollte auf ihn zulaufen.
    »Marjuschka!« Die Stimme eines Mannes, aber nicht die ihres Vaters. Warum rief die fremde Gestalt auf dem Pferd ihren Namen? Plötzlich fühlte sie, wie sie hochgehoben wurde. Da saß sie vor dem Mann auf dem Pferd, und sie wurde weggebracht von den Flammen, in die Dunkelheit hinein.
    Der Besitz der Bobrovs in Sumpfloch wurde vollständig zerstört, das heißt, Bobrovs Leibeigene, der kostbarste Teil des Besitzes, starben.
    Als die Soldaten eintrafen, waren die Leitern hochgezogen, und nur ein einziger Mann warf noch einen zornigen Blick in die Runde, ehe er als letzter im Innern verschwand und die Tür hinter sich zuschlug. Gegen das Feuer war nichts mehr auszurichten.
    Damit war diese Angelegenheit erledigt. Der Abt war zufrieden, ebenso waren es die Behörden. Als man Nikita Bobrov die Nachricht überbrachte, zeigte er sich überrascht und entsetzt. Andrej hielt die kleine Marjuschka klugerweise verborgen. Niemand wußte, daß sie überlebt hatte. Bei seiner Rückkehr übergab Andrej sie Nikita.
    Es war eine schwere Entscheidung gewesen. Sie war seine Enkelin, daran bestand kein Zweifel. Nicht nur, daß sie ihrer Großmutter erstaunlich ähnlich sah – später an jenem Tag hatte sie Andrej gebeten, ein letztes Andenken an ihre Mutter holen zu dürfen. Als die Soldaten abgezogen waren, kehrten die beiden in den verlassenen Ort zurück und fanden Arinas Armband dort, wo sie es zurückgelassen hatte. Andrej hatte es sogleich als jenes erkannt, das er einst Elena übergeben hatte.
    Aber obwohl Andrej sich dem Mädchen als sein Großvater zu erkennen gab und ihm anbot, es zu sich zu nehmen, bestand es darauf, bei Eudokia zu bleiben.
    Andrej sah das ein; Eudokia war die einzige Verbindung Marjuschkas zu ihrer verlorenen Familie, ihre einzige Freundin. Er erzählte ihr nicht, daß Nikita Bobrov und sein Sohn sie hatten vernichten wollen.
    So kehrte im Jahre 1703 die kleine Marjuschka nach Moskau zurück, in Nikita Bobrovs Haus. Ihr Großvater, der Kosak, ließ eine kleine Geldsumme für sie zurück, damit sie als Erwachsene eine Freie sein würde.
    1710
    Es war ein farbloser, feuchtkalter Frühlingstag. Das Eis schmolz spät in St. Petersburg. Wenn es zersprang, klang es mitunter wie ein Gewehrschuß. In manchen Jahren war der Frühling so rauh dort oben, daß er sich kaum vom Winter unterschied. In den warmen, staubigen Sommern waren in diesen

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