Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Russka

Russka

Titel: Russka Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edward Rutherfurd
Vom Netzwerk:
legte sie einen langen Schal, und um den Kopf band sie ein Tuch.
    Dann faßte sie langsam, fast nachdenklich nach dem Goldarmband am linken Handgelenk. Es war eine feine Arbeit, ein einzelner großer Amethyst war eingearbeitet, und Marjuschka wußte, daß das Armband ihrer Mutter viel bedeutete. Nun aber nahm sie es ab und legte es neben den Ofen. »Was tust du da?« flüsterte das Mädchen.
    Arina lächelte sie liebevoll an. »Das sind irdische Dinge, Marjuschka«, sagte sie leise, »aber jetzt gehen wir in ein himmlisches Reich.« Dann holte sie einen kleinen Behälter. Marjuschka hatte beobachtet, wie ihre Mutter und einige andere Frauen ein paar Tage zuvor in den Wald gegangen und mit seltenen Beeren zurückgekommen waren. In einer Dorfhütte hatten sie etwas mit diesen Beeren gemacht, und Arina war mit dem kleinen Behälter zurückgekommen. Doch sie hatte Marjuschka nicht sagen wollen, was darin war. Jetzt goß Arina eine Flüssigkeit aus dem Behälter in einen Holzbecher und reichte ihn Marjuschka. »Trink das!«
    »Was ist das?«
    »Frag nicht. Trink es einfach.«
    Die Flüssigkeit schmeckte seltsam bitter. »Haben die anderen Kinder das auch getrunken?«
    »Ja. Und ich glaube, auch ein paar Erwachsene.«
    Es gab viele Beerenarten in den russischen Wäldern. Manche hatten außergewöhnliche Eigenschaften. Eine bestimmte Art wurde von den raskolniki bei solchen Anlässen verwendet. Die beiden verließen das Haus und gingen mit den übrigen Dorfbewohnern schweigend auf die kleine Kirche zu, wo einige Männer die Leitern aufstellten.
    Inzwischen kontrollierte Daniel mit drei älteren Männern, ob sich niemand mehr in den Häusern befand. Lautlos stiegen die Leute über die Leitern in die Kirche. Marjuschka und ihre Mutter waren unter den letzten.
    Fünf Männer blieben draußen; sie sollten auf ein Zeichen hin das Stroh anzünden, über die Leitern ins Innere steigen, sie hinter sich hochziehen und die Tür verbarrikadieren. Wenn dies alles plangemäß ablief, würde das Gebäude innerhalb kürzester Zeit in Flammen stehen. Ein Mann stand als Beobachtungsposten auf dem Dach. Er mußte das Zeichen geben.
    Marjuschka stieg die Leiter langsam hinauf. In der Kirche brannten mehr Kerzen als üblich. Die Gesichter der Anwesenden waren blaß und angespannt. Dann kam Daniel. »Brüder und Schwestern«, sprach er feierlich, »die Zeit ist nun wohl gekommen. Diejenigen, die verzagt sind, sollten daran denken, daß dies ein viel leichterer Tod ist als der, der uns sonst erwarten würde. Und euch allen sage ich: Unser Gott und sein Reich erwarten uns. Er ist bereits unter uns mit offenen Armen. Er ist unser Vater, und er nimmt uns endlich aus dieser bösen Welt zu sich. Bereitet euch also vor, durch Christi vollkommene Liebe, in sein Reich des ewigen Lichtes einzugehen.« Und er begann zu beten.
    Marjuschka war das alles vertraut und doch seltsam. Die Stimme ihrer Mutter, die die Antwortstrophen sang, klang so lieblich und tröstlich. Der Schein der Kerzen kam ihr besonders hell vor. Sie fühlte einen leichten Schwindel, denn nun taten die Beeren ihre Wirkung. Im ersten fahlen Morgenlicht sah der Mann auf dem Dach die Gestalten sich nähern. Er rief den Männern unten etwas zu. Nun wollte auch er zu den anderen gehen, doch plötzlich stutzte er: das war keine Abteilung von Soldaten – es waren nur zwei Leute, und es waren Kosaken.
    Die Männer unten gingen bereits mit ihren Fackeln in die Unterkirche.
    »Halt!« schrie der Mann vom Dach. »Das sind nicht die Leute des Zaren! Kein Feuer legen, es sind keine Soldaten!« Andrej und Pavlo wurde schließlich bewußt, was im Dorf vor sich ging. »Mein Gott, sie verbrennen sich selbst«, murmelte Andrej. »Unsere Arbeit wäre damit getan.«
    Andrej nickte. »Sofern auch der Mann Daniel stirbt. Da müssen wir sichergehen.«
    Langsam ritten sie weiter. Da sahen sie, wie Leute wieder die Leitern an der Kirche herabstiegen. Diese eine Möglichkeit hatte Daniel nicht eingeplant: blinden Alarm.
    Auch Arina war überrascht. Während die Menschen an ihr vorbeidrängten, setzte sie ihren Gesang fort. Daniel unterbrach die Gebete. Erst da bemerkte Arina, daß Marjuschka nicht mehr neben ihr stand.
    In der Unterkirche herrschte inzwischen größte Verwirrung. Die Männer versuchten, das bereits entfachte Feuer zu löschen. Neben einer Leiter stand ein Dutzend Leute und starrte die Kosaken an.
    Niemand achtete unterdessen auf das kleine Mädchen. Zufällig war sie in den Weg eines großen

Weitere Kostenlose Bücher