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Russka

Russka

Titel: Russka Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edward Rutherfurd
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Religionsfreiheit gestattete – sie hatten doppelte Steuern zu entrichten und mußten ein gelbes Abzeichen an ihren Jacken tragen.
    Und Peter verlangte auch weiterhin von allen Untertanen etwas, das die raskolniki nicht erfüllen konnten: unbedingte Treue und Gehorsam dem Zaren und seinem neuen, säkularisierten Staat gegenüber. Wie konnten sie ihm gehorchen, wenn sie den Antichrist in ihm sahen?
    »Wir können nicht mit gutem Gewissen für die Gesundheit des Zaren beten«, erklärte Daniel. »Wenn wir das tun, verraten wir alles, woran wir glauben.«
    An dem Morgen, als der Abt starb, war Marjuschka mit anderen Kindern aus Russka am Fluß beim Fischen, auf der Seite, wo das Kloster lag. Sie wußten, daß etwas geschehen war, als sie die Mönche am Tor herumlaufen sahen und hörten, wie sie die Laienbrüder von den Feldern zurückriefen. Gleich darauf begann die Kirchenglocke zu läuten.
    Es war zu erwarten gewesen, daß der Abt bald sterben würde, denn er war sehr alt. Er war in der Klosterbibliothek plötzlich zusammengebrochen.
    Neugierig, wie Kinder sind, liefen sie zur Klosterpforte. Ein Laienbruder sagte ihnen, was vorgefallen war. Marjuschka rannte zu ihrem Vater und erzählte es ihm. Sie fing den Blick auf, den Daniel Arina zuwarf, und da begriff sie, daß dieser Tod etwas Bedeutungsvolles war.
    Der Tod des alten Abts veranlaßte die Behörden, dem Kloster einen Besuch abzustatten. Sie waren kaum beeindruckt von dem, was sie vorfanden. Die Wahl eines neuen Abts wurde abgesagt, und zum Ärger der Mönche wurde ein Mann aus Vladimir eingesetzt. Der neue Abt war ein freundlich dreinblickender Mensch in den Fünfzigern mit einem runden Gesicht und blaßblauen Augen. Er traf Anfang Mai ein. Zwei Wochen später hatten verschiedene Vorkommnisse in Sumpfloch seinen Argwohn erregt. Eine Woche später kamen zwei Fremde ins Kloster und führten eine geheime Unterredung mit dem Abt.
    Es war ein warmer Nachmittag im Frühsommer. Die Sonne warf ihre sanften Strahlen auf die Ikonen der Ortsheiligen in der Kirche. In den dunklen Ecken brannten vor den Ikonen Kerzen. Alle Dorfbewohner standen schweigend im Kirchenraum. Das war Marjuschkas Familie: die Menschen, mit denen sie nach dem Willen Gottes leben und sterben würde. Da war die liebenswerte, warme Vertrautheit der kleinen Kirche.
    Ihr Vater las die Messe. Obwohl sie erst neun Jahre alt war, sah sie in ihm den Patriarchen, unerschütterlich und zeitlos wie die Propheten auf der Ikonostase.
    Marjuschka stand neben ihrer Mutter. Wie lieblich und doch traurig klang ihre Stimme, als sie die Antwortstrophen sang. Als sie bei der Litanei angelangt waren, sah Marjuschka, wie die beiden Fremden lautlos die Kirche betraten. Köpfe wandten sich nach ihnen um. Sie machten eine Kniebeuge, bekreuzigten sich mit zwei Fingern und hielten sich ehrfürchtig im Hintergrund. Auch ihr Vater hatte sie wahrgenommen. Als er mit den Gebeten begann, sah sie ihn einen Augenblick zögern.
    Marjuschka versuchte sich während der Gebete zu konzentrieren, doch immer wieder ging ihr Blick zu den Fremden. Als Daniel die Hand zum Schlußsegen hob, traten die beiden Männer plötzlich nach vorn.
    »Schluß mit der Messe!« rief der eine.
    »Das ist eine Beleidigung der Kirche und des Zaren«, verkündete der andere. Nachdem Daniel den Segen vollzogen hatte, blickte er zu den beiden hinunter und fragte: »Habt Ihr mir etwas zu sagen?«
    »Ihr macht das Kreuzzeichen mit zwei Fingern«, rief der eine. »Warum habt Ihr nicht für Seine Majestät den Zaren gebetet?« verlangte der andere zu wissen.
    Daniel gab keine Antwort.
    Niemand von der Gemeinde machte eine Bewegung. »Wir nehmen Euch mit«, sagte der eine zu Daniel. »Ich bleibe.«
    »Die Soldaten werden Euch beibringen, für den Zaren zu beten«, erklärten sie.
    Daniel schüttelte langsam den Kopf. »Der Zar ist der Antichrist«, sagte er nur.
    Der Mann schnappte nach Luft. »Das wagt Ihr zu sagen?« Daniel blickte ihnen fest in die Augen. Nun waren die Worte gesprochen. Eines Tages hatten sie gesagt werden müssen. »Sollen wir sie fertigmachen, Vater?« fragte ein junger Mann, der hinten stand. »Wir könnten sie ertränken.« Daniel sah zu ihm hin. »Gott vergebe dir diesen schlimmen Gedanken«, sagte er leise. »Laßt sie in Frieden ziehen.« Als die beiden die Kirche verließen, spürte Marjuschka, wie sich Furcht der Gemeinde bemächtigte. Alle blickten hilfesuchend zu Daniel auf.
    »Wir müssen weiterhin gemeinsam beten, meine Kinder«,

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