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Russka

Russka

Titel: Russka Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edward Rutherfurd
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den Rest für sich behalten wollte, doch für die Frau eines Bauern wäre es nicht gut, mehr Geld zu haben. Marjuschka war glücklich. Sie war verliebt, und in wenigen Tagen würde sie St. Petersburg für immer verlassen. Aber nun hatte sie Prokopios noch einen Auftrag gegeben… Am Tag zuvor hatte sie bei einem Spaziergang an der Neva Männer gesehen, die einen Graben aushoben. Es gab Hunderte solcher Trupps unglückseliger Bauern, Rekruten, Kriegsgefangener. Sie hätte diese armen Kerle sicher keines Blickes gewürdigt, hätte sie nicht gemerkt, daß einer von ihnen sie unverwandt anstarrte. Sie sah hinunter, und da stand in dem breiten, gefrorenen Graben ein dunkelhaariger, mittelgroßer Bursche, der wohl einmal ganz gut ausgesehen hatte. Nun aber lagen seine Augen tief in den Höhlen, und einige Zähne fehlten ihm. Als sie einander anstarrten, begann er zu zittern. Es war Pavlo, ihr Onkel, der Kosak. Es konnte keinen Zweifel geben. Obwohl sie damals ein Kind gewesen war, würde sie niemals die Gesichter der beiden Männer vergessen, die sie vor dem Feuer gerettet hatten. »Pavlo.«
    »Marjuschka.«
    »Was machst du denn hier?«
    Er versuchte ein Lächeln, doch er wurde von einem Hustenanfall geschüttelt. Er versuchte es wieder: »Mazepa.« Sie verstand. Seit sie sich zuletzt gesehen hatten, waren in der Ukraine grundlegende Veränderungen vor sich gegangen. Für die Großrussen im Norden bedeutete der Name Mazepa nur eines: Verrat.
    Daß Peter die Kleinrussen der Ukraine fallenließ, war ebenso folgerichtig wie tragisch. Die riesigen Kosakenkontingente, die ihn im Kampf gegen die Schweden unterstützten, waren den bestens ausgebildeten Nordeuropäern nicht gewachsen. Aus diesem Grund verachtete sie der Zar. Die Ukrainer fühlten sich gedemütigt. Im Herbst 1708 nahm der Krieg eine schlechte Wendung für Peter. Niemand dachte, daß er gewinnen könne, und die europäischen Mächte warteten nur darauf, daß sein Imperium zusammenbrechen und aufgeteilt werden würde. Der siegreiche Karl XII. von Schweden vereinigte sich mit Polen zu einem gewaltigen Vorstoß gegen das arme Rußland. Man vermutete, daß Moskau angegriffen würde. Das hätte Peters Ende bedeutet, doch der schwedische König wandte sich statt dessen nach Süden – gegen die Ukraine. Und Mazepa schloß sich ihm an.
    Das war zweifellos Verrat. Mazepa war ein Intrigant. Natürlich hatte er seit Jahren mit Peters Feinden verhandelt. Er war der Hetman der Kosaken. War Peter also vielleicht schuldlos? Keineswegs. In dieser Krisensituation sandte er Botschaft, die Ukrainer hätten sich ohne seine Hilfe zu verteidigen. Und wenn er sich auch selbst in einer Zwangslage befand, so beriefen sie sich doch mit Recht darauf, daß er ein zwischen ihnen und Rußland zu Bohdans Zeiten getroffenes Abkommen gebrochen habe – nämlich, daß Rußland sie unterstützen werde. Um sein Land zu retten, tat Mazepa, was ihm richtig erschien.
    Das war ein Fehler. Menschikov, Peters Günstling, eignete sich Mazepas Hauptstadt, Vorräte und nahezu die gesamte Einwohnerschaft an – ob Soldaten oder nicht. Die Ukraine zögerte. Die Russen schritten ein. Einige Kosaken schlugen sich auf Mazepas Seite, die Mehrheit jedoch nicht.
    Im nächsten Frühjahr fand die große Schlacht bei Poltava statt. Dies war wohl Peters Sternstunde. Bei all seinen Fehlern – er war mutig und ohne Furcht. Eine Musketenkugel schlug ihm den Hut vom Kopf, eine weitere traf seinen Sattel, eine dritte prallte an einer silbernen Ikone ab, die er um den Hals trug. Am Ende waren die mächtigen Schweden endgültig zurückgeschlagen. Europa staunte. Die Landkarte Europas bekam innerhalb eines Tages ein anderes Gesicht: ein neues, ungeheures Rußland war im Entstehen. Europa hatte Grund sich zu fürchten.
    Von nun an verfolgte Peter eine neue, unbarmherzige Politik. Der alte Süden wurde russifiziert. Große Landbesitzer, allen voran Menschikov, traten auf den Plan. Kosakendistrikte wurden von Russen kontrolliert. Die ukrainische Presse wurde zensiert. Peter ließ seine Berater wissen, er beabsichtige, die Unterwerfung der Ukraine so zu vollziehen, wie der Engländer Cromwell mit Irland verfahren war.
    In einer Hinsicht hatte Pavlo Glück gehabt. Falls er nicht ein schlimmes Fieber bekommen hätte, wäre er mit seinem Herrn Mazepa geritten; dann hätte er entweder ins schwedische Exil fliehen müssen, oder er wäre als Gefangener gehängt worden.
    Als ihn jedoch Offiziere in Perejaslavl fanden, hegten sie Zweifel.

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