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Russka

Russka

Titel: Russka Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edward Rutherfurd
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Sein Fall wurde Peter persönlich vorgetragen. Die Antwort war kurz und bündig: Dieser Offizier hat mir einmal einen Brief überbracht. Er ist ein enger Verbündeter Mazepas und nicht vertrauenswürdig. Er soll all seiner Besitzungen verlustig gehen und mit den Rekruten nach St. Petersburg gebracht werden.
    Und so hob Pavlo nun den Graben aus, während Prokopios nach ihm suchte. Es war eine heikle Situation. Prokopios hätte natürlich die Bitte des Mädchens um Hilfe einfach ignorieren können. Aber immerhin waren ihrer beider Familien befreundet gewesen, und ja, irgendwie schämte er sich.
    Sollte er den Zaren um Gnade bitten? Das wagte er nicht. Peter konnte vieles verzeihen, niemals jedoch Verrat. Er wußte nicht, was er tun sollte, aber keinesfalls wollte er das Mädchen enttäuschen. Ah, da war der Graben. Prokopios forschte in den Gesichtern der Männer, doch er entdeckte niemanden, der Pavlo ähnlich sah. Er rief den Vorarbeiter und beschrieb den Kosaken, so gut er konnte. Der Vorarbeiter nickte. »Ja, Herr, wir hatten einen solchen Mann hier. Ich mußte ihn gestern entlassen.«
    »Warum?«
    »Ich sah, wie er mit einem Mädchen, einer Fremden, sprach.«
    »Aha. Heute ist er also nicht hier?«
    »Er war wohl schwächer, als ich dachte«, murmelte der Mann. »Ihr meint, er sei tot?«
    »Ich fürchte ja, Herr. Ist das in Ordnung?« O ja, das war wirklich in Ordnung.
    Es würde kaum auffallen. Wenn auch nicht feststeht, wie viele Arbeiter bei dem Bau St. Petersburgs an Krankheit, Erschöpfung oder Hunger starben, so muß ihre Zahl doch in die Tausende gegangen sein.
    Es war zwei Tage später an einem warmen Morgen. Eine leichte Brise kräuselte die Wasser der Neva.
    Marjuschka nahm Abschied von dieser Stadt. Irgendwie trennte die Nachricht von Pavlos Tod sie endgültig von der Vergangenheit. Sie wußte, daß sie nur noch nach vorn schauen konnte. Sie wollte sich auf sich selbst konzentrieren, auf ein glückliches Leben mit ihrem Ehemann, das hoffte sie. Doch was bedeutete Glück in diesem endlos weiten Rußland? Sie blickte am Fluß entlang. In diesem Augenblick spürte sie plötzlich die Gegenwart ihres Vaters. Bei dieser Vorstellung lächelte sie. Doch ebenso rasch verschwand ihr Lächeln. Sie sah eine riesige, eiskalte Sonne, deren Licht in den Augen schmerzte. Unaufhaltsam stieg sie aus dem Nordmeer in den grenzenlosen russischen Himmel auf. Sie würde, das spürte Marjuschka, mit den furchtbaren Strahlen ihr Blut in den Adern zum Erstarren bringen. Bei dieser Vision verstand sie, was ihr Vater ihr gesagt hatte: Die schrecklichen Tage der Apokalypse waren gekommen. Und der Antichrist hieß Peter.
    Zarevitsch Aleksej hatte im Jahre 1718 gegen seinen Vater konspiriert. Törichterweise ließ er sich durch das Versprechen, sein Vater werde ihm vergeben, aus dem Exil nach Rußland zurücklocken, und zwar durch einen älteren, sehr gewitzten Diplomaten: Peter Tolstoj. Bald darauf starb der Zarevitsch nach der Folter in der Peter-und-Pauls-Festung. Es gab noch andere Erben. 1721 wurden im Vertrag von Nystadt die baltischen Länder, eingeschlossen Livland und Estland, formell als zu Rußland gehörig anerkannt, und so sollte es bis 1918 bleiben. Deshalb verlieh der neugebildete russische Senat Zar Peter hochtrabende Titel wie Pater patriae, Imperator, Maximus: Vater des Vaterlandes, Kaiser, Größter.
    1722 beschloß der Sohn des unerwartet verstorbenen Prokopios Bobrov, eines seiner Dörfer, Sumpfloch, in der Nähe des Städtchens Russka, wiederzubeleben. So übersiedelte er die Hälfte der Bewohner eines anderen, ihm gehörenden Orts dorthin. Unter diesen Leuten war eine Frau mit drei hübschen Kindern. Sie hieß Marjuschka.

Katharina
    1786
    Alexander Bobrov saß an seinem Schreibtisch und starrte auf die beiden vor ihm liegenden Bögen Papier. Der eine war mit Zahlen von seiner eigenen Hand bedeckt, der andere war ein Brief, der ihm eine halbe Stunde zuvor durch einen livrierten Diener überbracht worden war. Während er auf die Papiere sah, murmelte er: »Was zum Teufel soll ich bloß machen?«
    Draußen vor dem Kollegium, wie die Ministerien jetzt genannt wurden, war es bereits dunkel. Im Dezember gab es in St. Petersburg nur fünfeinhalb Stunden Tageslicht. Den eisig pfeifenden Wind hörte man nicht, denn wie in allen Häusern in St. Petersburg hatte man im Kollegium bereits im Oktober die Doppelfenster eingesetzt.
    Seit Monaten war Bobrov dabei, das schwierigste und gefährlichste Spiel seines Lebens zu

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