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Russka

Russka

Titel: Russka Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edward Rutherfurd
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arme Adlige gleichermaßen. Die Behörden zeigten Verständnis; sie richteten sogar eine Kreditbank ein, natürlich nur für den Adel, und das zu guten Bedingungen. Da das Vermögen eines Adligen nach der Zahl seiner Leibeigenen berechnet wurde, drückten sich die zu leistenden Sicherheiten nicht in Rubeln, sondern in Seelen aus. Gott sei Dank war in diesem Jahr das Kreditlimit von zwanzig auf vierzig Rubel pro Seele angehoben worden. Das hatte Alexander die vergangenen Monate über Wasser gehalten. Der Besitz bei Tula, auf dem er aufgewachsen war, mußte jedoch verkauft werden, und seine ihm verbliebenen Seelen wurden ihm als Hypothek belastet. Außerdem hatte er noch wer weiß wie viele Schulden an Kaufleute. An diesem Morgen war der Moment gekommen, daß Bobrov die Augen vor seiner Lage nicht weiter verschließen konnte. Als sein Majordomo ihn um Geld für Besorgungen auf dem Markt bat, stellte er fest, daß er nichts mehr im Hause hatte. Er wies den Burschen an, es inzwischen für ihn auszulegen. Als Alexander zu seiner Bank ging, wollte man ihm dort kein Bargeld mehr vorstrecken. In seinem Büro sah er dann seine Konten durch und entdeckte voller Schrecken, daß die mittlerweile angefallenen Zinsen sein Einkommen bei weitem überstiegen.
    Und nun war dieser Brief gekommen! Die Heirat mit dem deutschen Mädchen war zwar ein Weg aus seinem Dilemma. Aber er wollte diese Sache doch lieber vermeiden. Aber wie? Vor vielen Jahren war er schon einmal verheiratet gewesen. Seine Frau war nach nur einem Jahr Ehe zu seiner großen Betrübnis im Kindbett gestorben. Nun hatte er seit Jahren eine reizende Geliebte. Das deutsche Mädchen war im Grunde nur eine von mehreren Gelegenheiten, bei denen er in den vergangenen Jahren eher spielerisch um Frauen geworben hatte, um seine Chancen zu testen, falls ihn seine Finanzmisere tatsächlich zu einer Heirat zwingen sollte. Die Familie dieses Mädchens gehörte dem baltischen Adel an, Nachkommen der ehemaligen Deutschen Ordensritter; manche von ihnen waren in russische Dienste getreten, nachdem Peter der Große ihre baltischen Erblande annektiert hatte. Das Mädchen war fünfzehn Jahre alt, und dummerweise hatte sie sich hoffnungslos in ihn verliebt. Da Tatjana eine Erbin war, hätte er dafür sogar dankbar sein sollen.
    Das ganze Jahr über hatte das unschuldige Kind den Vater bestürmt, die Angelegenheit zu einem Abschluß zu bringen. Im Laufe der Zeit mußte Bobrov angesichts seiner unsicheren Finanzlage immer mehr Verpflichtungen eingehen. Für den Fall, daß die Dinge weiterhin nicht nach Plan verliefen, durfte er sich das Mädchen nicht entgehen lassen. Seine Bedenken, der Vater könne die Wahrheit über seine, Alexanders, Schulden herausfinden und die ganze Sache auffliegen lassen, wurden immer größer. Bobrov hatte um Zeit gepokert, und ausgerechnet heute war dieser ungewöhnliche Brief gekommen. Das Mädchen schrieb sehr direkt. Alexander sei ihr drei Wochen lang aus dem Weg gegangen, erklärte sie. Ihr Vater habe andere Bewerber im Sinn. Der Brief endete so:
    Ich werde meinen Vater morgen abend fragen, ob er etwas von Ihnen gehört hat. Falls nicht, will ich nichts mehr von Ihnen wissen.
    Ein junges Mädchen schrieb persönlich in einem solchen Ton an einen Mann – das durchbrach alle Regeln der Etikette und war unerhört. Alexander konnte es kaum fassen. Er lehnte sich in seinem Stuhl zurück und schloß die Augen. Mit Tatjanas Geld könnte er sein schönes Haus in St. Petersburg und seine Besitzungen halten. Er würde reich, abgesichert, geachtet sein. Warum also zögerte er? Warum griff er nicht nach dem Rettungsanker, den ihm das Schicksal zugeworfen hatte? Er öffnete die Augen und starrte in die winterliche Dunkelheit draußen. Es gab noch eine Chance für ihn, ein letztes gewagtes Würfelspiel: die alte Dame.
    Er seufzte. Es war ein unerhörtes Risiko. Selbst wenn er jetzt bekam, was er wollte, konnte sie später ihre Meinung immer noch ändern. Dann würde er wahrscheinlich alles verlieren – Geld, Ansehen, selbst die Möglichkeit, wieder auf einen grünen Zweig zu kommen. Alexander Bobrov blieb noch einige Zeit an seinem großen Schreibtisch sitzen und überdachte seine Chancen. Dann richtete er sich sehr gerade auf, ein grimmiges Lächeln im Gesicht. Heute abend noch gehe ich zu ihr und frage sie, beschloß er. Bobrov, der Spieler, spielte ein heimliches Spiel, und es ging um viel mehr als das Vermögen der jungen Tatjana. Er spielte um St. Petersburg.
    St.

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