Russka
spielen; und er konnte kaum fassen, was jetzt geschehen war. Auf einem der beiden Bögen hatte er eine Liste seiner Schulden aufgestellt. Der Brief enthielt ein Heiratsangebot oder vielmehr eine Aufforderung zur Heirat. »Es muß doch einen Ausweg geben«, flüsterte er wieder und wieder.
Er schob die Papiere weg und rief in das Vorzimmer hinein. Sofort erschien ein höflicher junger Mann in hellblauer Jacke mit gelben Knöpfen und weißen Kniehosen – die Uniform der St. Petersburger Regierung.
»Sage dem Lakaien, er soll den Kutscher holen!«
»Sogleich, Euer Hochgeboren.« Dieser Titel bezog sich nicht auf Alexander Bobrovs Vorfahren, obwohl es Adlige waren, sondern auf die Tatsache, daß er es, wenn auch erst Anfang Dreißig, bereits zu einem schwindelerregenden fünften Rang innerhalb der vierzehn Dienstränge gebracht hatte, die Peter der Große eingeführt hatte. Niedrigere Ränge wurden lediglich mit »Wohlgeboren« tituliert; es folgte »Hochwohlgeboren« und »Hochgeboren«. Wenn Bobrov seine glänzende Karriere weiterverfolgen konnte, wäre ihm, so hoffte er, der höchste und begehrteste Titel sicher – »Euer Höchste Exzellenz«. Alexander Prokofievitsch Bobrov war ein gutaussehender Mann von etwas mehr als durchschnittlicher Größe, einem eher runden, glattrasierten Gesicht mit breiter Stirn, leicht verhangenen braunen Augen und schmalen Lippen. Sein Haar war nach der Mode jenes Jahrzehnts gepudert, und über jedem Ohr kringelte sich eine einzelne Locke, die morgens mit Hilfe einer Brennschere entstand. Sein Gehrock war aus schlichtem Tuch, nach englischem Schnitt eng anliegend und knielang. Seine Weste war bestickt, die Kniehosen weiß mit blauem Streifen. Ein Mann also, nach der besten Mode der Zeit gekleidet.
Im goldenen Zeitalter Katharinas der Großen gab es in dem hübschen St. Petersburg keinen besseren Spieler als Alexander Prokofievitsch Bobrov. Er spielte allerdings nicht eigentlich um Geld. Obwohl man ihn häufig an den Kartentischen der besten Häuser sah, spielte er immer nur um geringe Summen. Er war an einem größeren, geheimeren Spiel interessiert: am Spiel um die Macht. Bisher hatte er gewonnen.
Er hatte für seinen Erfolg aber auch gearbeitet. Ebensogut hätte er ein Niemand sein können, wie so mancher Provinzadlige der damaligen Zeit. In seiner Kindheit, die er auf einer der Familienbesitzungen in der Nähe Tulas verbrachte, bestand seine Erziehung mehr oder weniger aus der Lektüre des orthodoxen Psalters und aus den Märchen und russischen Liedern, die er von den Leibeigenen lernte. Als er zehn Jahre alt war, lud ihn ein Freund seines Vaters ein, in seinem Moskauer Haus zu leben und mit seinen Kindern gemeinsam erzogen zu werden. Das war der Durchbruch für ihn – mehr brauchte er nicht.
Er arbeitete zum Erstaunen seiner Lehrer unermüdlich, wurde dann für das Elitekorps der Pagen am St. Petersburger Hof ausgewählt, und während die meisten dieser jungen Männer spielten, tranken oder es mit Frauen trieben, verwandte er mehr Zeit auf seine Studien als je zuvor. Schließlich erlebte er seinen größten Triumph – er wurde mit einer Handvoll Jugendlicher auf die berühmte Leipziger Universität geschickt. Was trieb ihn eigentlich immer weiter?
Er verdankte all seinen Erfolg seinem Ehrgeiz, und dieser war ein grausamer Lehrmeister. Er spornte an, doch wenn man einmal strauchelte, saß er einem wie eine Furie im Nacken. Andererseits verlieh dieser Ehrgeiz dem Alexander Bobrov eine merkwürdige Lauterkeit. Wie raffiniert er auch beim Kartenspielen vorgehen mochte – es geschah alles im Dienst einer geheimen Idee, die er verfolgte.
Wieder blickte er auf das mit Zahlen vollgeschriebene Papier. Er hatte seit längerem gewußt, daß er in Schwierigkeiten steckte, aber er hatte die genaue Rechnung immer wieder hinausgeschoben. Nun war es soweit: Er war finanziell ruiniert. Dabei hatte er noch mehr Glück gehabt als viele andere; sein Vater hatte ihm drei Güter hinterlassen, eines bei Tula, ein anderes auf ertragreichem Land südlich der Oka in der Provinz Rjazan und eines in Russka, südlich von Vladimir. Außerdem war er an zwei weiteren beteiligt. Insgesamt herrschte Alexander über fünfhundert Seelen – so nannte man die erwachsenen männlichen Leibeigenen. Zu jener Zeit kein großes Vermögen, aber immerhin ein gutes Erbe. Doch es reichte nicht aus.
Die Hälfte aller Männer, die ich kenne, haben Schulden, suchte er sich zu trösten. Das traf zu – auf reiche und
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