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Russka

Russka

Titel: Russka Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edward Rutherfurd
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Petersburg erschien den Zeitgenossen wie ein Wunder. Auf demselben Breitengrad wie Grönland oder Alaska, zwölf hundert Meilen nördlicher als Boston, dem nördlichen Polarkreis näher als London oder Berlin, war die russische Hauptstadt ein zweites Venedig. Wunderschön und einfach war es gebaut, um das breite Becken herum, wo die Neva sich durch das große Dreieck der Vassiljev-Insel gabelte, deren Spitze sich landeinwärts wandte und deren breite Basis zur Flußmündung hin die Stadt vor den Unbilden des Meeres schützte.
    Gab es in Nordeuropa einen schöneren Anblick? Dann, in der Strommitte, die Spitze der Insel, die Strelka, mit ihren Wohnhäusern und Lagerhäusern und den vielen kleinen klassizistischen Tempeln. In einiger Entfernung zur Linken auf einer eigenen kleinen Insel die alte Peter-und-Pauls-Festung. Zur Rechten, auf dem Südufer, lagen Zar Peters Admiralitätsgebäude, die barocken und klassizistischen Fassaden des Winterpalais und der Eremitage. Wie ruhig und heiter das alles wirkte! Die Stuckfassaden waren zur damaligen Zeit meist gelb, rosa oder braun getüncht, was ein zartes Zusammenspiel mit dem grauen Ton des Wassers ergab.
    Zar Peters Stadt; er hatte sie geplant. Als sollte stets an seine militärischen und seefahrerischen Ambitionen erinnert werden, waren die drei breiten Straßen – der berühmte NevskijProspekt war die größte davon –, von der Mitte des Südufers ausgehend, fächerförmig auf die Admiralität ausgerichtet. Und doch war die Topographie der Stadt mit ihren weichen Konturen eher feminin. So seltsam es erscheinen mag: Seit Peters Tod war seine Stadt fast ausschließlich von Frauen regiert worden. Zuerst von Peters Witwe, dann von seiner deutschen Nichte, der Kaiserin Anna, später zwanzig Jahre lang von Peters Tochter Elisabeth. Jeder männliche Thronanwärter war entweder verstorben oder nach kurzer Zeit abgesetzt worden.
    Als Bobrov geboren wurde, regierte noch Kaiserin Elisabeth. Es waren sinnenfrohe, ausschweifende Jahre. Sie war eine vielseitig interessierte Frau, ließ das Winterpalais erbauen; zu ihren zahlreichen Liebhabern zählten bedeutende Männer wie Schuvalov, der Begründer der Moskauer Universität, Rasumovskij, der große Musikkenner. St. Petersburg war kosmopolitisch geworden, ahmte den Glanz des französischen Hofs nach.
    Und nun zog das goldene Zeitalter herauf. St. Petersburg – die Stadt der Kaiserin Katharina. Wer hätte je gedacht, daß diese unbedeutende junge Fürstin von einem kleinen deutschen Hof Alleinherrscherin über Rußland werden würde? Sie war als liebe, harmlose Gemahlin für den Thronerben, Elisabeths Neffen Peter, gekommen. Das wäre sie auch geblieben, wäre ihr Gemahl nicht ein extrem unausgeglichener Charakter gewesen. Obwohl durch seine Mutter ein Nachfahre Peters des Großen, war der junge Mann ein Deutscher, und Friedrich der Große war sein Idol. Er haßte Rußland, und das sagte er auch. An seiner jungen Frau zeigte er keinerlei Interesse.
    Welch einen Gegensatz die beiden bildeten! Ein Erbe, der mit seinem Erbteil nichts zu tun haben wollte, und diese ausländische Fürstin, die zum orthodoxen Glauben übertrat und eifrig Russisch lernte. Obwohl sie ihm einen Erben gebar, wandte Peter sich bald von ihr ab, nahm sich eine Geliebte. Im Grunde trieb er seine Frau dazu, in ihrer Verzweiflung selbst Liebhaber zu nehmen. Hatte er versteckte selbstzerstörerische Tendenzen? Bobrov war jedenfalls dieser Meinung. Als dieser verhaßte junge Mensch auf den russischen Thron kam und die von Katharinas Liebhaber angeführten Palastwachen ihn umbrachten, war Alexander Bobrov durchaus nicht der einzige, der einen Seufzer der Erleichterung ausstieß. Wer wäre ein besserer Thronfolger gewesen als seine beliebte junge Gemahlin, die Mutter des nächsten männlichen Prätendenten, die alles Russische so sehr schätzte? So begann durch einen glücklichen Zufall die glorreiche Regierungszeit Katharinas II. Katharina die Große. Rußland schüttelte seine letzten Fesseln ab. Im Westen war bereits einem geschwächten Polen das restliche Weißrußland abgenommen worden. Im Süden war die türkische Flotte vernichtet, und die uralte Bedrohung durch die Steppentataren war endlich abgewehrt, nachdem Katharina den Krim-Khan abgesetzt und seine Länder annektiert hatte. Nach Osten zu beanspruchte Rußland nun die gesamte nordeurasische Ebene bis zum Pazifik. Jenseits des Kaspischen Meeres waren russische Truppen in die asiatischen Wüsten bis an die

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