Russka
aufgeklärte Denker die Ergebnisse der Aufklärung mit Schrecken betrachteten. Statt einer Reform sahen sie nur Chaos. Die Jakobiner hatten sie allesamt betrogen.
Die Kaiserin fühlte sich einsam. Die Gesichter um sie her änderten sich. Vor allem hatte sie ihren treuen Freund, den großen Potemkin, verloren. Er war in allem ein loyaler Anhänger gewesen. Er hatte ihr die Krim verschafft. Zwei Jahre vor der Revolution hatte er Katharina auf einer wunderschönen Reise durch die ausgedehnte südliche Provinz am Schwarzen Meer begleitet. Er hatte sogar hübsche Attrappendörfer ihr zu Ehren errichten lassen – die berühmten Potemkinschen Dörfer. Diese Orte mochten künstlich sein, aber das Imperium war es nicht Es war in der Tat reich. Endlich kam ein russischer Herrscher in den legendären Palast des Krim-Khans in Bachtschisaraj und empfing die Huldigung der Tataren.
Und dies war für Katharina und Potemkin das Ende ihres langen Spätsommers. Die Französische Revolution hatte stattgefunden. Es war ihnen nicht gelungen, das letzte strahlende Ziel, Konstantinopel, zu erreichen. Katharinas junger Liebhaber war ihr untreu geworden, und diesmal gelang es Potemkins Widersachern, ihren eigenen Protege, einen nichtssagenden Burschen, in Katharinas Schlafzimmer zu bringen. Potemkin begab sich, tief deprimiert, in den Süden. Ein Jahr später war er tot.
Was war ihr geblieben? Ein langweiliger junger Liebhaber. Ein Sohn, der sie haßte. Ihre beiden Enkelsöhne, die nach ihren Anweisungen erzogen worden waren und die sie abgöttisch liebte. Und ihr Imperium. Sie würde es erhalten und für ihre Enkel stark machen.
Wie sehr St. Petersburg sich verändert hatte! Frankreich war ganz aus der Mode gekommen, selbst französische Kleidung wurde scheel angeblickt. Öffentliche Gespräche über die Revolution waren verboten, republikanische Bücher wurden verbrannt, Schauspiele abgesetzt. Durch die Philosophen war es zu alldem gekommen. Betrübt ließ die Kaiserin die Büsten ihres alten Freundes Voltaire entfernen.
Als der radikale Radischtschev so töricht war, zu ebendiesem Zeitpunkt ein Buch zu veröffentlichen, das zur Beendigung der Leibeigenschaft aufrief, war Katharina so aufgebracht, daß der Mann von Glück sagen konnte, »nur« nach Sibirien verbannt zu werden. Wozu waren die Freimaurer noch imstande mit ihren geheimen Machenschaften, verlangte sie zu wissen. Steckten sie mit ihrem Sohn unter einer Decke? Waren sie vielleicht Jakobiner? Sie ließ auf alle Fälle den Professor gründlich befragen.
In ganz St. Petersburg hatte Katharina die Große in ihren späten Jahren keinen loyaleren Anhänger als Alexander Prokofievitsch Bobrov. »Die Jakobiner sind Verräter«, war seine Meinung. Was die Aufklärung anbetraf, war er sich mit der Kaiserin vollkommen einig. »Freiheit der Rede ist, ebenso wie Reform, nur unter stabilen Verhältnissen möglich«, erklärte er nun. »Wir müssen uns vorsehen.« Niemand in St. Petersburg war vorsichtiger als er. Er lebte in einem bescheidenen Haus, nicht mehr im ersten, sondern im zweiten Admiralitätsviertel. Er hielt sich nur dreißig Bedienstete und gab selten ein Diner für mehr als zwölf Gäste. Auch seine Kutschen und Equipagen waren bescheiden, sogar seine Schulden. Er lebte tatsächlich nahezu seinem Einkommen entsprechend. Bobrov war noch immer Staatskanzler. Seine Karriere war zum Stillstand gekommen, und da sein ehemaliger Vorgesetzter Potemkin verschieden war, schien ein weiterer Aufstieg unwahrscheinlich. Trotzdem wirkte Bobrov zufrieden. Er hoffte immer noch auf zukünftige Ernennungen, wenn auch geringerer Art, um sein Einkommen aufzustocken. Seit Beginn der Revolution hatte er sämtliche Bindungen mit Radikalen gelöst. Als Radischtschev verhaftet wurde, hatte Alexander in einem kurzen Zeitungsartikel die ungeheuren Fehler des ehemals Verehrten angeprangert. Seit er dem Professor schriftlich seinen Austritt mitgeteilt hatte, war er nicht mehr in Verbindung mit den Rosenkreutzern getreten. Sein Leben verlief zwar eintöniger, dafür aber sicher. So gehörte es sich ja auch für einen umsichtigen Familienvater.
Der Pakt, den Alexander an jenem furchtbaren Tag im Jahre 1789 mit dem Allmächtigen geschlossen hatte, hatte tatsächlich funktioniert: Tatjana hatte überlebt und den zweiten hübschen Jungen zur Welt gebracht.
Adelaide de Ronville traf Alexander zwar weiterhin, aber nur als Freund, nicht mehr als Liebhaber. Er war alles in allem ein vorbildlicher Ehemann, ein
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