Russka
Wutentbrannt sprang er auf und schlug sie so heftig ins Gesicht, daß sie zu Boden fiel.
Eine Stunde später saß Alexander immer noch in seinem Arbeitszimmer. Wie habe ich das nur tun können? fragte er sich und wußte doch die Antwort genau: Er fühlte sich schuldig und war im Grunde wütend auf sich selbst. Will ich denn meine Frau und meine Familie ruinieren? Für die Rosenkreutzer und für meinen eigenen grenzenlosen Ehrgeiz? Vor ihm lagen mehrere Briefe. In dem einen wurde der Kauf eines herrlichen englischen Pferdes, im nächsten der Kauf einer prächtigen neuen Kutsche, die nicht gebraucht wurde, rückgängig gemacht. Viel wichtiger aber war ein längeres Schreiben, das er soeben beendet hatte. Es ging an den Professor und endete folgendermaßen:
Vielleicht werden mir zu einem späteren Zeitpunkt jene Wohltaten zuteil, die mir allein – das weiß ich – aus der unbefleckten Quelle unseres heiligen Ordens zufließen können. Ich muß jedoch gestehen, hochwürdiger Superior, daß ich mich derzeit nicht in der Lage fühle, jene Opfer zu bringen, die Sie rechtens von mir fordern. Deshalb ziehe ich mich respektvoll zurück, bis ich mich unserer Bruderschaft würdig erweisen kann.
Er hatte die Rosenkreutzer verlassen. Er lächelte spöttisch. Das würde ihm jedes Jahr eine Summe einsparen, die höher war als seine Haushaltsausgaben. Als er den Brief versiegelt hatte, wurde er gerufen: Bei Tatjana hatten die Wehen eingesetzt. Am Vortag hatte man eine polnische Hebamme geholt, am Abend einen deutschen Arzt. Seit dem Mittag war eine weitere Person anwesend, eine Hebamme vom Land, eine echte Russin aus Sumpfloch. Sie saß in einer Ecke und murmelte christliche Gebete und heidnische Zauberformeln vor sich hin, ohne die kein Kind auf dem russischen Land geboren werden durfte.
Der Arzt führte Alexander aus dem Zimmer. Er sah sehr besorgt aus. »Der Geburtsweg ist blockiert«, sagte er. »Vielleicht gibt es eine Möglichkeit, das Kind zu retten. Aber die Mutter… es besteht Gefahr, daß sie verblutet.«
»Sie stirbt, meinen Sie?«
»Es besteht die Gefahr, sagte ich.«
Der Arzt ging wieder ins Zimmer und ließ Alexander stehen. Dieser zog sich in sein Arbeitszimmer zurück und versuchte zu beten. Nach einer Weile ging er erneut zu Tatjana. Sie bot einen furchtbaren Anblick. Ihr Gesicht war schmerzverzerrt und geisterblaß. Ihr Haar klebte von Schweiß, und ihre Augen waren schreckensweit.
Alexander nahm ihre Hand. Sie blickte zu ihm auf und versuchte ein tapferes Lächeln. Er lächelte zurück. Sie sollte spüren, daß er sie liebte.
Sie lag im Sterben. Er glaubte, sie wüßte es. Ihre angstvollen Augen sagten: Selbst wenn du mir nicht helfen kannst, sage mir nur dieses eine Mal, daß du mich liebst.
An diesem Märznachmittag traf Alexander Bobrov seine letzte Abmachung mit Gott. Lasse meine Frau und das Kind leben, barmherziger Gott, und ich will ihr treu sein und Adelaide de Ronville aufgeben, gelobte er stumm. Es war, so meinte er, die letzte Karte, die er auszuspielen hatte.
1792
Es gibt keine zauberhaftere Zeit in St. Petersburg als den Hochsommer, die Zeit der »Weißen Nächte«: Um die Sonnwende sind in diesen nördlichen Landstrichen die Tage endlos, und es wird kaum dunkel: Das Tageslicht dauert weit in den Abend hinein, ja bis in die Nacht, bis es sich schließlich gegen Morgen für ungefähr eine halbe Stunde in blaßschimmerndes Zwielicht verwandelt. Es ist eine magische Zeit, die Welt ist unwirklich. Sicher waren irgendwelche Zauberkräfte in der Atmosphäre, die Alexander Bobrov dazu verleiteten, wahnsinnige Dinge zu tun.
In diesem Sommer hatte sich die Welt gründlich verändert. Tagtäglich wartete man in St. Petersburg auf Nachrichten aus dem Westen, wo drei Sommer zuvor mit dem Sturm auf die Bastille in Paris der epochemachende Umsturz seinen Anfang genommen hatte. Die Französische Revolution. Der König von Frankreich, Königin Marie Antoinette und ihre Kinder waren praktisch Gefangene. Keiner wußte, was diese Revolutionäre, die Jakobiner, als nächstes tun würden. Die europäischen Monarchen fühlten sich zutiefst verletzt. Nun führten Österreich und Preußen sogar Krieg gegen die zersetzende neue Kraft. England war im Begriff, sich ihnen anzuschließen. Niemand war empörter als die aufgeklärte Katharina von Rußland. Die Grundsätze Freiheit und Aufklärung waren großartige Theorie, doch Revolution und herrschender Mob waren etwas völlig anderes. Kein Wunder, daß
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