Russka
bißchen füllig inzwischen, doch zuverlässig, so daß seine alten Freunde lächelnd meinten: »Ach, Bobrov – ein schwerverheirateter Mann.«
Eine bittere Pille hatte er trotzdem schlucken müssen. Tatjanas Vater starb und hinterließ nach seinem Tode zur allgemeinen Überraschung nur eine Kleinigkeit. Anscheinend hatte der baltische Adlige, ohne Tatjanas Wissen, mit dem Getreide aus seinen südlichen Besitzungen hoch spekuliert – und verloren. »Gott sei Dank haben wir die Gräfin«, sagte Alexander zu seiner Frau, »ohne sie würde kaum etwas für die Kinder übrigbleiben.« Sie besuchten die alte Dame regelmäßig, und diese hatte ihnen versprochen, daß das Erbe ihrer Kinder gesichert sei.
Die Zeit der Weißen Nächte… An einem dieser magischen Abende war Alexander auf dem Weg über die Neva zu einem der regelmäßigen Besuche bei der Gräfin.
Die alte Dame war inzwischen recht gebrechlich geworden, aber sie hielt an ihren Einladungen fest, die sich nun ruhiger gestalteten. Es kamen nur noch ein paar Getreue. Die Gastgeberin verhielt sich exzentrisch wie eh und je: Sie tat so, als hätte es keine Französische Revolution gegeben. Aber vielleicht wußte sie ja wirklich nichts davon. Nichts sollte die ruhige Sicherheit ihres Heiligtums stören. Wie erwartet, fand Alexander nur einige Gäste vor, meist ältere Herren, aber auch einen oder zwei von der jüngeren Generation. Er sah Adelaide im Gespräch mit einem alten Herrn, und sie lächelten einander zu. Sie sah etwas schmaler aus als früher. Es war schade, daß sie zur Zeit keinen Liebhaber hatte. Und da thronte die Gräfin mitten im Raum auf ihrem vergoldeten Stuhl. Was war sie doch für ein Kuriosum in ihrem langen, mit Schleifen geschmückten Kleid! Es war, als ob sie die Tradition des ehemaligen französischen Hofes fortsetzen wolle.
Alexander beugte sich nieder und küßte sie. Selbst nach all den Jahren konnte er immer noch nicht sagen, ob sie ihn wirklich gern hatte. Sie schien zumindest erfreut, ihn zu sehen; sie wechselten einige Worte, dann entfernte er sich, ging im Zimmer umher. Die Gespräche waren uninteressant, bis er einen nervösen jungen Mann hörte, der offenbar soeben aus Moskau gekommen war. »Was kann man heutzutage überhaupt noch veröffentlichen?« fragte der gerade. »Es ist ja nicht nur die Zensur. Sie haben sogar den alten Novikov, den Leiter der Universitätspresse, verhaftet. Ist denn niemand mehr sicher?«
»Es heißt, er sei Freimaurer gewesen«, warf jemand ein. »Vielleicht, doch selbst wenn…«
Alexander seufzte. Der arme alte Novikov! Er fragte den jungen Burschen aus. Anscheinend war noch keine Anklage erhoben worden.
»Was hat der Professor Ihnen bedeutet?« erkundigte sich der Mann.
Alexander zögerte einen Augenblick, dann antwortete er: »Überhaupt nichts. Ich traf ihn vor Jahren ein- oder zweimal.« Dann verließ er die Gesprächsrunde. Nach einiger Zeit gelang es ihm, ein paar Worte mit Adelaide zu wechseln. Da fiel ihm auf, daß die Stimmung der Gäste sich verändert hatte. Eine kleine Gruppe scharte sich um die alte Dame. Als Bobrov hinzutrat und einen neuen Gast zur Rechten der Gräfin stehen sah, erstarrte sein Lächeln.
Es war der alte General, der Mann, den er fünf Jahre zuvor an ebendieser Stelle gedemütigt hatte. Alexander konnte es kaum fassen. Er hätte die Existenz des Mannes sicher vergessen, hätte dieser nicht in den letzten Jahren einen überraschend starken Einfluß bei Hofe ausgeübt. Während er sich nun höflich verneigte, fielen Alexander zu seinem Schrecken zwei Dinge auf: Erstens sprühten die Augen des alten Herrn völlige Ablehnung; offenbar hatte er Alexander nicht vergessen. Zum zweiten zeigte der Ausdruck auf dem Gesicht der Gräfin, daß sie erwartete, Bobrov werde den General wiederum demütigen.
War ihr denn nicht bewußt, daß mittlerweile fünf Jahre vergangen waren? Wußte sie wirklich nicht, daß die Aufklärung nicht mehr in Mode und der General jetzt gefährlich war? Diese Fragen konnte Alexander sich nicht beantworten. Sicher war nur: Sie wollte unterhalten werden, koste es, was es wolle.
Sie lächelte bereits maliziös. »Nun, General«, begann sie, »wenn ich es recht verstehe, haben Sie die Absicht, all unsere Bücher zu verbrennen und auch die Theater zu schließen.« Alexander saß in der Falle. Was kam, war schlimmer als alles, was er sich hätte ausmalen können. Der General sah genau, wie die Welt sich seit der Französischen Revolution verändert hatte;
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