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Russka

Russka

Titel: Russka Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edward Rutherfurd
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sollte er ihn jetzt erklären?
    »Und all dies nur, weil ich ein paar Worte über Voltaire gesagt habe. Was wird aus meinen Kindern, Ihren eigenen Verwandten? Sie wollen sie wirklich enterben?«
    »Ihre Kinder interessieren mich nicht im geringsten. Sollen sie doch verhungern! Und jetzt raus mit Ihnen, Verräter!« Das war zuviel für Alexander. Der Zorn und die tiefe Enttäuschung dieses Tages, vielleicht seines ganzen Lebens stiegen plötzlich hoch und überfluteten alles. »Du alte Hexe!« schrie er. »Du blöde, senile alte Vettel! Du hast überhaupt keine Ahnung. Dein verdammter Voltaire! Du verdammtes Stück!« Er hob die geballte Faust über den Kopf. »Mein Gott, ich bringe dich um!« Er tat einen Schritt auf sie zu.
    Es war eher eine Geste der Abwehr, vielleicht wollte er ihr einen Schrecken einjagen. Doch nun sah er zu seinem Entsetzen, wie sie schauderte, die Augen aufriß und in ihre Kissen zurückfiel. Alexander stand wie versteinert. Es war totenstill. Er blickte zur Tür, wartete, daß Diener auftauchen würden, aber niemand kam. Er blickte zur Gräfin hin. Ihr Mund stand offen. Sie atmete anscheinend nicht mehr. Zitternd trat er zu ihr und fühlte vorsichtig ihren Puls. Er spürte nichts. Eine Zeitlang starrte er sie an, bis ihm klar wurde, daß sie tot war. Sie mußte wohl einen Herzschlag erlitten haben. Alexander bekreuzigte sich. Nach einer Weile erkannte er die Bedeutung des Vorgefallenen. »Gott sei Lob und Dank«, flüsterte er. Sie war gestorben und hatte ihr Testament vorher nicht geändert. »Nun bin ich doch noch gerettet.« Vorsichtig schlich er sich auf den Gang und blickte sich um. Alles war still. Er gelangte unbemerkt in Madame de Ronvilles Wohnung, die er wieder von außen verschloß. Dann ging er rasch zu seiner wartenden Kutsche an der Strelka.
    Während Alexanders Kutsche über die Brücke auf den Petersplatz zurollte, flatterten Gräfin Turovas Augenlider, bis sie sich schließlich öffneten. Sie hatte eine Weile in tiefster Ohnmacht gelegen, aber sie hatte keine Ahnung, wie lange. Es war nicht verwunderlich, daß Alexander sie für tot gehalten hatte; da er keine Erfahrung mit alten Menschen hatte, wußte er nicht, daß der Puls oft fast unmerklich schlägt. Die Gräfin versuchte, ihre Kräfte zu sammeln, dann rief sie nach ihrer Zofe, die sich anscheinend immer noch unten aufhielt. Vorsichtig drehte sie sich um und ließ ihre Beine über den Bettrand gleiten. Sie hielt sich am Nachttisch fest und prüfte, ob sie gehen konnte. Dann begab sie sich zu dem kleinen Schreibtisch, zog einen Bogen Papier aus der Schublade und las nachdenklich; die Gräfin hatte keine Ahnung, was der Inhalt bedeutete, aber ganz sicher hatte er eine Bedeutung.
    Dieser Brief war Alexander aus der Tasche gefallen, als er in jener Dezembernacht fünf Jahre zuvor den verrückten Tanz in ihrem Zimmer aufgeführt hatte. Er war mit »Colovion« unterzeichnet.
    Alexander konnte in dieser Nacht nicht schlafen. Er nahm seinen Weg zur Uferstraße, ging langsam über den großen Platz, wo Peters mächtige Statue aufragte, weiter an den langen, kahlen Wänden der Admiralität entlang und schaute auf die weite Fläche vor dem Winterpalais und die anschließende Eremitage. Zur linken zog sich das breite, fahle Band der Neva hin. Auf der Strelka inmitten des Flusses lag ein heller Schein. Als Alexander stehenblieb und nach Norden sah, entzündete sich die frühe Morgenröte hinter dem Horizont über der arktischen Ödnis.
    Eine unwirkliche Jahreszeit. Eine unwirkliche Stadt. Als Alexander die vergangenen zehn Jahre seines Lebens Revue passieren ließ und an die seltsamen Ereignisse dieses Tages dachte, kam es ihm so vor, als sei seine Existenz nichts als eine kleine Statistenrolle auf dieser riesigen Petersburger Bühne. War nicht alles wie ein Schauspiel? War nicht die arme Kaiserin Katharina mit ihren jungen Liebhabern ein pathetisches Trugbild? War Peters des Großen Vision von Rußland als einem gewaltigen Kontinentalreich nur ein wilder Traum, unmöglich, je Wirklichkeit zu werden? »Nun, die ganze Stadt ist nichts als ein riesiges Potemkinsches Dorf«, murmelte Alexander vor sich hin, »nichts als Fassaden. Und was war dann mein Leben, mein Spiel um Macht, meine Liebe zum Prunk, mein Wunsch nach irdischer, ja himmlischer Belohnung? War dies alles eine einzige Illusion?«
    Als er sich langsam auf den Heimweg machte, sagte er leise: »Ja, es ist alles Einbildung, maßlose Einbildung.« Er war so sehr in seine

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