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Russka

Russka

Titel: Russka Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edward Rutherfurd
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Gedanken über diese große Sinnlosigkeit vertieft, daß er, als er endlich am frühen Morgen heimkam, nicht einmal die kleine Kutsche vor seinem Haus bemerkte, auch nicht die Gruppe von Männern, die ihn erwartete. Er blickte überrascht auf, als einer davon auf ihn zutrat und leise zu ihm sagte: »Staatskanzler Bobrov, Sie müssen uns begleiten. Sie sind verhaftet.«
    In der Zelle war es stockfinster; es gab keinerlei Licht. Alexander wußte nicht, wie lange er schon hier war, aber da die Tür zweimal einen Spalt geöffnet worden war und eine Hand eine Brotkruste und einen kleinen Krug mit Wasser hereingeschoben hatte, schätzte er, daß es sich um ein bis zwei Tage handelte. Der Raum war sehr klein. Alexander fand heraus, daß er sich nach zwei großen Schritten den Kopf an der gegenüberliegenden Wand anstieß. Dies mußte eine Zelle in der gefürchteten Peter-und-Pauls-Festung sein. Er hätte gern gewußt, ob die Zelle über oder unterhalb des Wasserspiegels lag, wahrscheinlich darunter. Warum hatte man ihn wohl eingesperrt? Aufgrund welchen Vergehens? Der Polizeibeamte hatte es ihm nicht gesagt, wahrscheinlich wußte er es nicht. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als sich ruhig zu verhalten.
    Ein weiterer Tag verging, und niemand kam. Ob man ihn wohl so lange hier lassen würde, bis er starb? Am Ende des dritten Tages holten sie ihn heraus. Minuten später stand er in einem großen Raum und blinzelte in das schmerzende Licht. Alexander fragte den einzigen Wachmann, was nun geschehe. »Sie werden verhört«, war die barsche Antwort gewesen. »Oh, von wem?«
    »Wissen Sie das nicht?« Der Wachmann grinste. »Von Scheschkovskij persönlich natürlich.« Dann lachte er. »Sie werden schon reden.«
    Alexander begann zu zittern. Jeder wußte über Scheschkovskij Bescheid – er war der am meisten gefürchtete Inquisitor von ganz Rußland. Der große Fragesteller hatte selbst Radischtschev, den radikalen Autor, ohne weiteres zur Strecke gebracht. Es hieß, seine Opfer könnten froh sein, wenn sie die Befragung lebend überstünden. Aber ich bin ein Adliger, sagte Alexander sich. Dem Gesetz nach darf er mich nicht foltern, mir nicht die Knute geben. Das Gericht mußte ihm seinen Adelsstand aberkennen, ehe man ihm eine solche Schmach antun konnte.
    Jemand drückte ihn auf eine Bank. Eine grelle Lampe wurde auf ihn gerichtet. Gleich darauf war ihm bewußt, daß noch eine Gestalt im Raum war. Er konnte sie nicht erkennen, weil er geblendet war, aber er hörte eine Stimme, die leise sagte: »Nun erzählen Sie mir von Colovion.«
    In den folgenden drei Wochen war Alexander Bobrov manchmal am Rand des Wahnsinns. An manchen Tagen ließ man ihn in seiner Zelle. Doch gewöhnlich warteten sie nur, bis er eingeschlafen war; dann schleppten sie ihn zurück in den erleuchteten Raum und richteten den Schein der Lampe auf sein Gesicht, oder sie zwangen ihn, ständig umherzulaufen, damit er nicht einschlafen konnte. Der Inquisitor kam in unregelmäßigen Abständen. Wenn Alexander fragte, warum er festgehalten werde, bekam er eine unklare und deshalb um so erschreckendere Antwort: »Ich glaube, Sie wissen es!« Oder: »Vielleicht wollen Sie es mir sagen, Alexander Prokofievitsch.«
    Er wurde nicht gefoltert. Aber keine Folter, das wurde ihm nun klar, kann schlimmer sein, als wenn man ständig am Schlafen gehindert wird. Er verstand inzwischen auch, warum dieser Vernehmungsbeamte so gefürchtet war. Er quälte vor allem die Seele. Allmählich, mit jedem Tag, mit jeder Befragung verlor Alexander einen Teil seiner Urteilsfähigkeit. Es war ein unterschwelliger Prozeß. Als er etwa jegliche Verbindung zu Colovion leugnete, widersprach ihm der Beamte nicht. Doch gegen Ende der Befragung ließ er Alexander mit ein paar ruhigen, gelassenen Worten wissen, daß er über den Professor und die Rosenkreutzer informiert sei. Wahrscheinlich, so dachte Alexander, hat er den Professor ebenfalls verhört. Wie aber konnte er von ihrer Verbindung wissen? Ob der Professor gesprochen hatte? Vielleicht.
    Es kam auch anderes zur Sprache. Der Vernehmungsbeamte wollte etwas über Alexanders Artikel hören, die er Jahre zuvor zu Themen wie etwa die Befreiung der Leibeigenen verfaßt hatte. Diese Artikel waren nicht unter Alexanders Namen veröffentlicht worden. Wie kam es nur, daß die Stimme der unsichtbaren Person es ohne weiteres hinnahm, wenn er etwas leugnete, und daraufhin mit unglaublicher Genauigkeit einige Zeilen wiederholte, die er vielleicht zehn

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