Russka
Jahre zuvor geschrieben hatte? Nach einer Woche hatte Alexander das Gefühl, der Beamte wisse nun alles über ihn, was man nur wissen konnte. Nach zwei Wochen hatte sein verwirrtes Gehirn den Eindruck, der Mann wisse mehr über ihn als er selbst. Nach drei Wochen hielt Alexander den Beamten für allwissend, gottgleich. Was also hatte es für einen Sinn, irgend etwas vor dieser Stimme, dieser gütigen Stimme zu verheimlichen, die ihm doch nur helfen wollte, sein Herz zu öffnen, damit er endlich einmal wieder schlafen konnte? Am einundzwanzigsten Tag sprach er schließlich.
An einem feuchtkühlen Oktobermorgen verließ Alexander die Peter-und-Pauls-Festung. Er saß hinten in einem kleinen, offenen Karren und war an Händen und Füßen gefesselt. Vorn saßen der Fuhrknecht und ein Soldat mit einer Muskete. Zwei Reiter begleiteten die Fuhre.
Seltsamerweise fühlte Alexander sich im Frieden mit der Welt. Er saß ganz ruhig und betrachtete die vorbeiziehende Stadt. Seine Kleider waren zerfetzt, sein Kopf unbedeckt, doch das machte ihm wenig aus. Jenseits des Flusses hatte er einen raschen Blick auf den bronzenen Reiter in der Ferne. Da waren das Winterpalais und die Eremitage.
Es war merkwürdig: Er hatte alles verloren, und doch fühlte er sich besser als in all den Jahren davor. Er fühlte sich aller irdischen Sorgen enthoben. Vielleicht war es sein persönlicher Charakterzug, vielleicht gehörte es zum russischen Wesen – jedenfalls wurde ihm klar, daß er sich nur in extremen Lebenssituationen mit sich selbst eins fühlte. Gebt mir einen Palast oder eine Mönchszelle, dachte er, es ist mir egal. Auf alle Fälle hatte er noch Glück gehabt. Er war nur zu zehn Jahren verurteilt worden.
Er hatte es am vorhergehenden Tag erfahren. Nach dem Ende der Verhöre war er mehrere Wochen lang in einer Zelle mit Fenster gefangengehalten worden. Er durfte weder Besucher noch Nachrichten aus der Außenwelt empfangen. Er wußte immer noch nicht, welcher Verbrechen man ihn beschuldigte. Am Morgen teilte der Vernehmungsbeamte ihm das Urteil mit.
»Ihr Verfahren lief gut«, verkündete er wohlwollend. Wie üblich bei solchen Verfahren war die Urteilsfindung eine kurze, informelle Angelegenheit, bei der der Angeklagte nicht anwesend war. »Die Kaiserin wollte Sie zu fünfzehn Jahren verurteilen; das jedenfalls hat Ihr Freund, der Professor, bekommen. Aber Ihre Frau hat der Kaiserin einen Brief geschrieben, einen sehr schönen, das muß ich schon sagen – und so waren wir nachsichtig. Übrigens haben Sie noch mehr Glück gehabt, doch davon wird Ihnen Ihre Frau berichten.«
Tatjana hatte er einige Stunden später gesehen. Da erfuhr er, daß die Gräfin noch am Leben war. »Sie hat allen Leuten in St. Petersburg erzählt, daß du sie hast ermorden wollen«, sagte Tatjana. »Sie ging noch am selben Abend zur Polizei und sagte ihnen, man solle dich verhaften. Und dann«, sie hielt einen Augenblick inne, »gibt es anscheinend noch andere Anklagepunkte. Es heißt, du seist Freimaurer.«
Katharina die Große führte im Sommer 1792 einen plötzlichen Schlag gegen die Freimaurer. Wahrscheinlich war das eine Folge von Novikovs Verhör, bei dem er etwas über die Existenz des geheimen inneren Ordens der Rosenkreutzer aussagte. Wie aus historischen Zeugnissen hervorgeht, hatten die Behörden selbst hinterher nur eine sehr unvollkommene Vorstellung von der Organisation des Ordens. Da die Rosenkreutzer jegliche Korrespondenz verbrannten, war die volle Mitgliederzahl nie erfaßbar. Die Verbindung zum Großfürsten Paul war nicht zu beweisen, doch die Kaiserin war unnachgiebig. Der Orden war geheim, seine Mitglieder wahrscheinlich radikal. Sie mußten beseitigt werden. Männer mit bedeutenden Beziehungen wie der Fürst wurden unauffällig ins Exil auf ihre Besitzungen geschickt. Der Buchhändler, der Freimaurer-Traktate verbreitet hatte, sollte verhaftet und später mit strengster Verwarnung entlassen werden. Am Professor würde ein Exempel statuiert werden. »Ich wünsche außerdem«, erklärte die Kaiserin, »daß ebenso mit einer Person aus St. Petersburg und einer weiteren aus Moskau verfahren wird.«
Deshalb war es ein höchst glücklicher Umstand, daß der Inquisitor Scheschkovskij mit der überraschenden Nachricht zu ihr kam, genau den Mann, den sie dafür brauchten, entdeckt zu haben. Als die Kaiserin hörte, um wen es sich handelte, war sie höchst angetan. Wie aber konnten sie nur soviel über mich wissen, fragte Alexander
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