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Russka

Russka

Titel: Russka Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edward Rutherfurd
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sich.
    »Madame de Ronville berichtete mir, wie das kam«, sagte Tatjana. »Sie besuchte mich nach deiner Verhaftung. Anscheinend hatte die Gräfin irgendeinen Brief von Professor Novikov, jenem Freimaurer. Sie wußte nicht, worum es sich handelte, und so zeigte sie ihn den Behörden. Daraufhin suchte ein Mann namens Scheschkovskij sie auf. Kennst du ihn?«
    »Ja, ich kenne ihn.«
    »Er blieb den ganzen Nachmittag bei ihr. Sie zeigte ihm eine Reihe von Artikeln, die du vor Jahren geschrieben hast. Er war sehr interessiert.«
    Alexander konnte sich die Szene ausmalen: die alte Gräfin und der mit allen Wassern gewaschene Vernehmungsbeamte. Wie einfach mußte es für ihn gewesen sein, alle für ihn wichtigen Informationen von ihr zu erfahren! Kein Wunder, daß er alles über Alexander zu wissen schien.
    »Ja, sie hatte ihre Rache«, meinte er traurig.
    »Trotzdem gibt es eine ganz kleine gute Nachricht«, sagte Tatjana.
    »Du wirst nicht in die Festung gesperrt wie der Professor. Du kommst ins Kloster von Russka.«
    1796
    Wie langsam, wie ruhig die Jahre vorübergingen! Alexander Bobrov horchte auf die Glocke, die die Mönche zum Gebet rief, und so wußte er immer, welche Stunde es war. Die Zelle war ziemlich geräumig, die Wände weiß verputzt, und es gab ein hohes, vergittertes Fenster.
    Er durfte Bücher haben, aber kein Schreibgerät. Ein Mönch gab ihm ein Psalmenbuch. Tatjana, die sich die meiste Zeit in Russka aufhielt, durfte ihn einmal im Monat besuchen und brachte gewöhnlich die Kinder mit. Es war merkwürdig, dem eigenen Besitz so nahe zu sein – und doch so fern. Das Kloster war natürlich nur noch ein schwacher Abglanz seiner selbst. Als er es als Kind besuchte, gehörten noch die umliegenden Ländereien bis zu seinem Besitz, dem Dorf Sumpfloch, dazu. Seit jedoch Katharina alle kirchlichen Ländereien übernommen hatte, gehörten die darauf arbeitenden Bauern alle dem Staat. Das Kloster war nur noch eine verlorene Ansammlung von Ordensgebäuden inmitten staatseigener Felder.
    Es war früher niemals ein Gefängnis gewesen, überlegte Alexander. Zwanzig Jahre zuvor aber war Katharina zu dem Schluß gekommen, daß sich das kleine Kloster in Russka gut für Gefangene eigne, die auf ihr Verfahren warteten. Seither wurde es auf diese Weise genutzt. Augenblicklich gab es allerdings nur zwei Gefangene, und sie waren in derselben Zelle eingesperrt: Alexander und sein merkwürdiger Genosse.
    War es Zufall oder ein boshafter späterer Einfall der Kaiserin, daß man Alexander mit diesem Burschen zusammen in eine Zelle steckte? Wahrscheinlich letzteres. Der Mann war sehr groß und hager, ein bißchen älter als Alexander, hatte einen langen, wehenden Bart und tiefliegende schwarze Augen, die mit brennender Intensität aus ihren Höhlen blickten. Es wirkte merkwürdig – da keinerlei physische Ähnlichkeit vorlag –, als er am ersten Tag verkündete, er sei Katharinas Gemahl, der ehemalige Zar Peter III. Er war völlig harmlos. Alexander vermutete, daß es sich um einen Staatsbauern irgendwo aus dem Norden handelte. Der Bursche konnte weder lesen noch schreiben, saß meistens da und starrte die Wand an. Alexander nannte ihn bei sich den »Falschen Peter«. Sie kamen gut miteinander aus.
    Wenn Tatjana ihn besuchte, wurde Alexander in eine andere Zelle gebracht, wo sie sich ungestört unterhalten konnten. Er freute sich auf diese Begegnungen. Tatjana war immer ausgeglichen und liebevoll. Sie saß da mit den Kindern und erzählte ihm das Neueste von draußen. So erfuhr er von den furchtbaren Ereignissen in Frankreich, wie die Jakobiner den König und seine Frau Marie Antoinette hingerichtet hatten. Er erfuhr, daß Polen schließlich ganz von den benachbarten Mächten eingenommen worden und zum größten Teil eigentlich eine russische Provinz sei. »Es läßt sich nicht leugnen, daß Kaiserin Katharina außerordentlich erfolgreich war«, bemerkte Tatjana.
    Jedesmal wenn sie kam, fragte Alexander mit munterem Lächeln und leichter Ironie: »Was gibt's Neues aus der großen Stadt?«
    Diese Frage bezog sich nicht auf St. Petersburg, sondern auf Russka. Der Ort war eigentlich keine Stadt. Er hatte kaum mehr als tausend Einwohner, und als Zufahrtsstraße diente ein Schotterweg. Aber als Katharina die örtliche Verwaltung fünfzehn Jahre zuvor reformiert hatte, beschloß man, diesen kleinen, rückständigen Ort, zumindest auf dem Papier, zur Stadt zu erheben. Es gab im russischen Reich Dutzende, wenn nicht Hunderte solcher

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