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Russka

Russka

Titel: Russka Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edward Rutherfurd
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nahezu nichts. Selbst seine geringsten Hoffnungen waren nun zerstört. Vielleicht sollte ich einfach in Russka leben, dachte er. Dort hätte er zwar nichts zu tun, aber das Leben wäre billig.
    Um acht Uhr abends erreichte er St. Petersburg. Er mußte Tatjana kurz von seinem Versagen berichten. Als sich seine Kutsche dem zweiten Admiralitätsviertel näherte, kam ihm eine Idee, und er befahl dem Kutscher, über die Neva zur Vassiljev-Insel zu fahren. Dort ließ er ihn an der Strelka, der Spitze der Insel, warten und ging zu Fuß weiter. Er wollte noch einen letzten Versuch wagen. Schließlich hatte er nichts mehr zu verlieren. Alexander näherte sich vorsichtig dem kleinen Seiteneingang zu Madame de Ronvilles Wohnung. In ihrer Nachricht hatte gestanden, daß sie den ganzen Abend bei den Ivanovs sei. Um so besser! Er wollte sie nicht mit hineinziehen. Er zog die Schlüssel zu ihrer Tür hervor, die er immer bei sich trug. Obwohl sie kein Liebespaar mehr waren, konnte er sich nicht von diesen Schlüsseln trennen. Er schloß auf und ging die Treppe hinauf.
    Wie still es war! Nicht der geringste Laut im Haus. Alexander ging durch Adelaides Räume. Im Salon hing ein leichter Rosenduft. Gleich darauf befand er sich im Haupthaus. Auch hier war alles still. Er stieg behutsam bis zum Treppenabsatz hoch und blieb dort stehen. Die Tür der Zofe war geschlossen. Offensichtlich hielt sie sich noch unten auf, doch die Tür zum Gemach der Gräfin stand offen. Er horchte. Ob sie wohl drinnen war? Da hörte er sie. Zuerst dachte er, sie spreche zu jemandem, doch als er nach einiger Zeit niemanden antworten hörte, wußte er, daß sie Selbstgespräche führte. Lautlos trat er ein. Die Gräfin saß im Bett und las. Sie sah noch älter und gebrechlicher aus. Ihre spitzen Schulterknochen waren unter der schlaffen Haut zu sehen. Sie wurde von Kissen gestützt und las mit Hilfe eines Vergrößerungsglases in einer Zeitung.
    Als sie ihn sah, stieß sie einen kurzen Schrei aus. Doch dann warf sie die Zeitung aufs Bett und zischte wütend: »Was wollen Sie? Sie wagen es, hereinzukommen?«
    »Ich wollte mit Ihnen sprechen, Daria Michailovna, aber Sie haben mich nicht eingelassen.«
    »Hinaus mit Ihnen!«
    »Gestatten Sie mir wenigstens, Daria Michailovna, Ihnen untertänigst mitzuteilen, daß Sie mir unrecht getan haben. Selbst wenn Sie fälschlicherweise auf mich böse sind, bitte ich Sie, meine arme Frau und meine Kinder, die unschuldig sind, nicht zu vernichten.«
    »Ihre Familie hat mich, auf Ihr Betreiben hin, schon einmal hier belästigt, und ich habe sie fortgeschickt«, entgegnete sie scharf. »Verlassen Sie mein Haus!«
    Seine Familie hier – wovon sprach sie da? »Das habe ich nie getan«, erwiderte er wahrheitsgemäß.
    Die Gedanken der alten Frau schweiften anscheinend ab. »Zuerst kommt der eine, dann der andere, und dann tun sie, als wüßten sie nichts«, murmelte sie. »Lügner! Von mir bekommen sie nichts.« Offenbar ist die Gräfin nun wirklich senil, überlegte Alexander. »Und schließlich die Kinder! Gesindel! Nattern!« krächzte sie.
    »Dana Michailovna«, fuhr Alexander geduldig fort, »ich versichere Ihnen, daß niemand den großen Voltaire mehr verehrt als ich. Aber zur Zeit dürfen diejenigen, die so denken wie Sie, nicht sprechen. Die Kaiserin will davon nichts wissen. Sie können sich denken, daß auch ich vorsichtig sein muß.«
    Zuerst sagte Gräfin Turova nichts; dann blickte sie ihn verächtlich an und schleuderte nur ein Wort hervor: »Hinterhältig!« Welch eine törichte, böse alte Frau sie doch war! Als sie nun wieder vor sich hinmurmelte, wußte er nicht, ob es Selbstgespräche waren oder ob sie mit ihm sprach. »Zu dem einen sagt er dies, zum anderen das. Man kann ihm nicht über den Weg trauen.«
    »Sie verstehen nicht. Ich versichere Ihnen…« begann er. Sie fuhr dazwischen: »Sie meinen, ich durchschaue Sie nicht. Schon zum zweitenmal schleichen Sie sich hier ein.«
    »Aber keinesfalls!« erwiderte er hitzig.
    »Lügner! Ich habe ihn gesehen, wie er mitten in der Nacht hier hereingekrochen ist. Dieb! Hat meine Bücher genommen, ist vor mir umhergetanzt wie ein Mondsüchtiger.« Mein Gott! Sie hatte also doch nicht geschlafen in jener lang zurückliegenden Nacht. Ihre Augen waren offen gewesen, weil sie nicht geschlafen hatte. Alexander hatte natürlich nie daran gedacht, daß die Alte die letzten fünf Jahre über seinen albernen nächtlichen Besuch nachgegrübelt hatte. Wie um alles in der Welt

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