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Russka

Russka

Titel: Russka Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edward Rutherfurd
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Infanterieoffizier. »Ich fürchte weniger Napoleons Truppen«, sagte Alexander zu Tatjana, »als unsere eigenen Leute.« Die Leibeigenen. In Berichten über Napoleons große Invasion in Rußland wird häufig übersehen, daß in den Monaten davor viele russische Grundbesitzer eine innere Revolution mehr fürchteten als den Eindringling. In ganz Europa hatte der französische Kaiser auf seinem Eroberungszug verkündet, er befreie im Namen der Revolution die Menschen von ihren Beherrschern; für viele war er ein Held. In Wirklichkeit aber waren von der riesigen Streitmacht, die mit ihm im Jahre 1812 nach Rußland einmarschierte – die legendäre grande armée –, weniger als die Hälfte echte Franzosen. Von allen europäischen Kontingenten kämpfte niemand verbissener als jene aus den benachbarten polnischen Territorien, die seinerzeit bei der Aufteilung des unglücklichen Polen von Österreich und Preußen vereinnahmt wurden und die Napoleon tatsächlich befreite. Kein Wunder also, wenn russische Führer fürchteten, daß die von ihnen unterjochten Polen und die unterdrückten russischen Leibeigenen sich erheben könnten, in Sympathie mit dieser Befreiungsarmee. Während die Welt draußen voller Gefahren war, herrschte im Wohnzimmer, in dem die Bobrovs beieinander saßen, ein stiller Frieden. Alexander und Tatjana saßen auf Lehnstühlen. Sie hielt eine Stickerei in der Hand. Neben dem Feuer saß, in einem Buche lesend, ihr ältester Sohn, der zweiundzwanzigjährige Ilja. Er hatte das runde Gesicht und das helle Haar seiner Mutter. Alexanders Meinung nach hätte der junge Mann, genau wie sein Bruder, als Soldat kämpfen sollen. Tatjana hatte ihn jedoch immer im Hause behalten unter dem Vorwand, er sei zu zart. Doch zart und zerbrechlich war er nur als Baby gewesen.
    »Ich finde ihn gar nicht zart«, brummte Alexander, »er ist dick und faul.«
    Dann gab's noch den kleinen Sergej. Alexanders Gesicht hellte sich auf, wenn er den Zehnjährigen ansah. Welch ein strahlender kleiner Kerl er doch war mit seinem schwarzen Haar, den lachenden braunen Augen und seiner fröhlichen Art. Er saß mit seiner Schwester Olga am Fenster und zeichnete lustige Bilder, um sie zum Lachen zu bringen. Die beiden waren unzertrennlich. Schließlich war da noch eine plumpe Bauersfrau Anfang Vierzig – Arina, die Kinderfrau. Soeben hatte sie ihnen aus ihrem unerschöpflichen Märchenschatz erzählt. Auf ihrem Schoß saß ein einjähriges Mädchen, Arinas verwaiste Nichte, die ebenfalls Arina hieß. Die Bobrovs hatten erlaubt, daß sie mit im Haus lebt. Es war eine heimelige Szene. Auf einem Tisch inmitten des Zimmers befanden sich geflochtene Körbe mit pirozki aus Reis und Ei, außerdem anderes Gebäck; auf einer Platte dufteten Zimthörnchen und daneben ein Apfelkuchen. Auf einem Beistelltisch blubberte der unverzichtbare Samovar vor sich hin. Alexander hatte ihn in Moskau gekauft und war sehr stolz darauf. Der Apparat war etwa sechzig Zentimeter hoch, aus Silber und wie eine griechische Vase geformt. Das Wasser darin wurde durch glühende Holzkohle immer auf dem Siedepunkt gehalten.
    Plötzlich stand Sergej, der aus dem Fenster gesehen hatte, auf und sagte: »Schau, Papa! Besuch.« Es waren Ivan und Sawa Suvorin, die da kamen. Sawa war mit zwanzig Jahren genauso groß wie sein Vater, und nun gab es zwei Riesen im Ort. Beide Suvorins trugen immer Lederstiefel, im Gegensatz zu den meisten russischen Bauern, die Filz- oder Bastschuhe anhatten. Wie mit dem auffallend großen Hut, den jeder Suvorin trug, demonstrierten sie damit ihren Wohlstand. Am Gürtel des Älteren hing ein Geldbeutel. Ivan Suvorin machte aus der Tatsache, daß er Geld hatte, keinen Hehl. Daß die gleiche Anzahl Münzen in die Kleidung des Sohnes eingenäht war, wußte allerdings niemand. »Gott weiß, ob wir sie nicht brauchen«, meinte Ivan. »Bei diesem habgierigen Wolf kann man nie wissen.« Der reiche Leibeigene war auf dem Weg zu seinem Herrn Bobrov, und das Geld sollte das Leben seines Sohnes retten. Schweigend gingen die beiden den Hang zum Haus hinauf.
    Alexander Bobrov war glücklich: Das Schicksal hatte sich wohl endlich entschlossen, ihm gnädig zu sein. Als er die beiden Suvorins in seinem Arbeitszimmer vor sich stehen sah, hatte er Mühe, ein Schmunzeln zurückzuhalten. Der Besuch konnte nur eines bedeuten: Geld. Die Frage war nur: Wieviel?
    Bobrov war nicht habgierig. Obwohl er früher einmal von Reichtümern geträumt hatte, war ihm das Geldscheffeln immer

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