Russka
Moskau und fuhr allein nach St. Petersburg. Vielleicht, daß es jetzt eine Stellung für einen Mann mit seinen Fähigkeiten gab? Zwei Monate verbrachte er in der Hauptstadt, es wurden ihm auch einige hoffnungsvolle Versprechungen gemacht, aber letztlich erreichte er nichts. Im Januar kehrte er zurück.
Tatjana lernte während dieser Zeit einen jungen Husarenhauptmann kennen; er nahm sie völlig für sich ein, ehe er mit seinem Regiment in die Ukraine weiterzog. Dieser witzige, amüsante Mann konnte bereits eine ganze Reihe ähnlicher Affären für sich verbuchen. Er war fünfundzwanzig, Tatjana einunddreißig Jahre alt. Der Hauptmann verhielt sich diskret. Alexander wußte nicht mit Sicherheit, ob es überhaupt eine Affäre gegeben hatte, bis es sich im Frühjahr nicht mehr verheimlichen ließ: Tatjana war schwanger. Was sollte er tun? Er dachte an ein Duell, erfuhr jedoch, daß der Bursche in einem Scharmützel an der Grenze gefallen war. So verlor er über die Affäre kein Wort mehr. Das Kind würde als sein eigenes behandelt werden.
Der Junge wurde nach dem heiligen Sergius benannt, dessen Fest dem Geburtstag am nächsten lag, und hieß also Sergej. Dazu kam die Ableitung seines Vatersnamens, und das ergab Sergej Alexandrovitsch.
»Sergej.« Tatjana lächelte, dann flüsterte sie den Kosenamen: »Serjoscha, mein Kleiner!«
»Natürlich wird er nichts von mir erben«, sagte Alexander sehr ruhig. »Wenn ich sterbe, bekommst du deinen Witwenanteil. Davon kannst du für ihn sorgen. Bis dahin komme ich für seine Erziehung auf.«
Tatjana senkte den Kopf. Das Thema wurde nicht wieder berührt. Ein halbes Jahr danach nahm Alexander wieder die eheliche Beziehung zu seiner Frau auf. 1803 wurde eine Tochter, Olga, geboren.
1812
Welch eine turbulente Zeit war das, diese Tage zwischen Krieg und Frieden. Wer hätte gedacht, daß aus dem Feuer der Französischen Revolution – dem Feuer von Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit – dieser Eroberer hervorgehen würde, der die ganze Welt zum Erzittern brachte? Napoleon: Held für die einen, Ungeheuer für die anderen. Wahrscheinlich gedachte er, wie Julius Caesar oder Tschingis Khan, die Welt zu regieren. Zar Alexander hatte wohl versucht, Rußland vor den Schrecken der europäischen Kriege zu bewahren. Doch es hatte den Anschein, als bereiteten sich im Frühjahr 1812 Napoleon und seine gewaltige Armee auf eine Invasion vor. Ganz Rußland zitterte. Die orthodoxe Kirche erklärte Napoleon zum Antichrist. Der Zar rief das Land zu den Waffen. Es war ein kalter, trüber Tag kurz vor Frühlingsanfang. Die Erde war noch von Schnee bedeckt. Die Familie Bobrov saß im Wohnzimmer ihres Landhauses und wartete auf Nachrichten. Es war ein typisches Landhaus: eine zweistöckige, etwa vierundzwanzig Meter lange Holzkonstruktion mit grüngestrichenen Wänden und weiß abgesetzten Fenstern. Von dem oben an einem bewaldeten Abhang liegenden Haus war der Blick auf das Dorf nicht möglich. Bäume verstellten die Sicht. Hinter dem Haus befanden sich einige Nebengebäude. Etwas zur Linken lag eine Holzhütte, das Eishaus, wo das Eis des im Winter zugefrorenen Flusses für die warmen Sommermonate gelagert wurde. Zur Rechten des Haupthauses war das Badehaus.
Landhäuser waren in Rußland noch weitgehend unbekannt. Das ritterliche Landgut und das Schloß des Magnaten, wie sie in England oder Frankreich die Regel waren, gab es selbst in Polen, doch im alten Moskauer Reich kannte man sie nicht. Erst nach der Regierungszeit Peters des Großen begannen die Landbesitzer allmählich wie europäische Edelleute zu leben. Nur mit einer Sache waren die Bobrovs unzufrieden: mit dem Namen ihres Dorfes – Sumpfloch. Solange sie in Russka gelebt hatten, hatte es ihnen nichts ausgemacht. Doch jetzt lebten sie auf dem Gut, und Alexander fand den Namen peinlich. Er hatte verschiedene Namen in Erwägung gezogen, bis er sich für einen entschied, den er von seinem Familiennamen ableitete: Bobrovo. Das blieb von nun an die offizielle Bezeichnung des Dorfes und des Gutes.
In dem Gebiet um Moskau wurden eilig neue Regimenter zusammengestellt. Am Tag zuvor hatte Bobrov einen persönlichen Brief des Militärgouverneurs von Vladimir mit der Bitte erhalten, weitere Leibeigene als Rekruten zur Verfügung zu stellen. Die Bauern des Dorfes hatten am Morgen das Los gezogen, und bald würde Alexander erfahren, wer ausgelost worden war. Sein zweiter Sohn, Alexej, diente mit erst neunzehn Jahren als stolzer
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