Russka
Flußufer und unterhielten sich. Hinter ihnen lag das Dörfchen, das Alexander Bobrov gehörte. Der Ort hatte sich in letzter Zeit beachtlich entwickelt. Es gab nur einen Holzsteg über den Fluß, und für die Fußgänger waren Bretter über die morastigen Stellen gelegt worden. Die Hütten befanden sich in gutem Zustand. Einige wenige, obwohl sie noch die Anordnung der traditionellen Bauern- isba zeigten, hatten ein Obergeschoß und geschnitzte Fensterläden – ihre Besitzer waren offensichtlich wohlhabend.
Die beiden Männer waren Vettern, wenn auch durch zwei Generationen getrennt. Sie stammten mit fünfzehn anderen Familien des Dorfes vom Mädchen Marjuschka ab, der einzigen Überlebenden des furchtbaren Kirchenbrands während der Regierungszeit Peters des Großen. Sie war lange danach ins Dorf zurückgekehrt. Zufällig waren beide Männer auf den Namen Ivan getauft.
Ansonsten gab es jedoch keine Ähnlichkeit zwischen ihnen. Ivan Suvorin war ein bärtiger Riese mit markantem Gesicht. Er überragte alle Männer des Ortes um Haupteslänge. Es hieß, er könne mit seinen kräftigen Armen ein Pferd heben.
Sein Vetter dagegen war nur mittelgroß und recht unauffällig. Er hatte gewelltes, volles Haar, sanfte blaue Augen, und wenn er Lust dazu hatte, sang er wunderschön. Er war ein freundlicher Mensch, wenn auch manchmal depressive Anwandlungen ihn zu plötzlichen Zornesausbrüchen oder zu Tränenströmen verleiteten. Aber nur selten tat er jemandem weh. Er hieß Ivan Romanov. Er freute sich, daß er den gleichen Namen hatte wie das Herrscherhaus, aber tatsächlich war der Name, den sich die kaiserliche Dynastie im 16. Jahrhundert gewählt hatte, einer der häufigsten in Rußland. Die beiden Männer waren Leibeigene Alexander Bobrovs. Aber während Romanov das Land bestellte und kleinere Holzschnitzereien anfertigte, um zusätzlich für die Zahlungen an seinen Herrn Geld zu verdienen, war Suvorin ein geborener Unternehmer. Er hatte eine Tuchweberei aufgebaut und verkaufte die Ware bisher auf dem kleinen Markt in Russka. Kürzlich hatte er jedoch herausgefunden, daß er in Vladimir, das eine Tagesreise entfernt lag, einen besseren Preis erzielen konnte. Und nun wollte er Seidenband herstellen. Seine Frage war, ob der Vetter sich daran beteiligen wolle. Die beiden Männer waren in Begleitung von Suvorins zehnjährigem Sohn. Er hieß Sawa und war die kleinere Ausgabe seines Vaters, auch was Stolz und Unnachgiebigkeit betraf. »Seidenbänder bringen viel ein. Es ginge uns allen gut, wenn du dich mit uns zusammentätest«, meinte Suvorin. Romanov zögerte noch. Er konnte das Geld gebrauchen, doch etwas ging ihm durch den Kopf – es war der Junge, Sawa. Er war zehn Jahre alt, aber Ivan Romanov hatte ihn noch nie lächeln sehen. »Nein«, sagte er, »ich glaube, ich bleibe lieber bei meiner Schnitzerei.«
»Wie du meinst. Ich kann dich nicht zu deinem Glück zwingen«, antwortete Suvorin. Und so gingen sie auseinander. An ebendiesem Tag wurde Alexander Bobrov noch einmal Vater. Als er das Kind im Arm hielt und es betrachtete, hatte er widerstreitende Gefühle. Dann blickte er Tatjana an, die in all den Jahren so viel für ihn durchgemacht hatte, und er lächelte ihr liebevoll zu. »Es ist ein Junge«, sagte er. Leider war es nicht sein Sohn. Es hatte ihn tief verletzt, daß Tatjana ihn gegen Ende des vorangegangenen Jahres betrogen hatte. Seltsamerweise gerade in dem Augenblick, als er neue Hoffnung geschöpft hatte. Die vergangenen fünf Jahre waren entmutigend gewesen. Wenn Zar Paul ihn auch aus der Haft entlassen hatte, zeigte er doch keinerlei Interesse an den Diensten des ehemaligen Staatskanzlers, und Alexander fühlte sich auf dem Gut, das seine Frau so zuverlässig ohne ihn geführt hatte, reichlich überflüssig. Andererseits jedoch war es zu jener Zeit entschieden besser, außerhalb von St. Petersburg zu leben. Der Zar hatte bald zu kränkeln begonnen und war schließlich dem Wahnsinn verfallen. Als eine Gruppe patriotischer Offiziere ihn 1801 ermordete und seinen Sohn auf den Thron brachte, atmete ganz Rußland auf – erleichtert und hoffnungsvoll. Auch Bobrov war voller Erwartung. Der junge Zar Alexander war Katharinas Enkel, den sie selbst unterwiesen hatte: Alleinherrscher über alle Russen und doch ein Kind der Aufklärung. Manche nannten ihn den Engel. Die Familie Bobrov wollte den Winter dieses Jahr in Moskau verbringen. Im November ließ Bobrov, erfüllt von neuer Energie, Tatjana und die Kinder in
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