Russka
Schneidezahn verloren, trotzdem blieb sie dieselbe.
Sie wollte soeben eine neue Erzählung beginnen, als es unten im Haus plötzlich unruhig wurde und die Stimme der Mutter rief: »Alexej!«
Der Bruder sah großartig aus in seinem pelzgefütterten Mantel. In dem dämmrigen Licht der Diele wirkte er mit seinem dunklen, nachdenklichen Gesicht und den tiefliegenden blauen Augen wie ein Krieger aus einer anderen Zeit.
Alexej lächelte Sergej zu. »Hier«, rief er und holte zu Sergejs Überraschung eine Musketenkugel hervor. »Das ist ein französisches Geschoß. Hat mich knapp verfehlt und schlug in meinen Verpflegungswagen ein.« Sergej nahm sie begeistert. »Hast du Napoleon gesehen?« rief er. »Ja.« Alexej grinste. »Er ist fast genauso fett wie Ilja.« Bald darauf saßen sie um den Eßtisch und lauschten den Neuigkeiten. Nach der Schlacht von Borodino hatte der alte General Kutusov Alexej tatsächlich persönlich belobigt. Nach dem Fall Moskaus wurde er mit Spezialeinsätzen gegen Frankreich beauftragt.
Aber die aufregendste Nachricht kam erst jetzt. »Napoleon verläßt Moskau. Die Franzosen wollen nach Hause.« Alexej nickte nachdenklich. »Aber es ist zu spät. Napoleons Vorräte sind zusammengeschrumpft. Wahrscheinlich denkt er, daß er die Grenze erreicht, ehe der Schnee kommt. Aber selbst wenn es so ist, hat er etwas vergessen: den russischen Morast. Sie werden darin versinken. Unsere Kosaken machen jedes Einsatzkommando nieder, das auf der Suche nach Verpflegung ist. Der Winter holt Napoleon ein, bevor er Smolensk erreicht.«
»Werden wir noch einmal angreifen?« fragte Tatjana beunruhigt. »Ja, wahrscheinlich. Wenn es aber noch einmal eine so große Schlacht wie die von Borodino gibt, machen wir ihn fertig.« Alexej konnte nicht über Nacht bleiben. Die Familie stand dabei, als er und sein Vater einander zum Abschied umarmten. Dann war er fort.
Drei Wochen vergingen. Es hatte den ersten Schnee gegeben, und Napoleons aufgeriebene Armee war bis auf einen versprengten Haufen zusammengeschmolzen. Gefallene wurden zurückgelassen.
Zu dieser Zeit bekamen die Bobrovs unerwarteten Besuch. Es war der junge Sawa Suvorin.
Alexander Bobrov mochte die Suvorins nicht. Vielleicht hatte er auch ein schlechtes Gewissen wegen seiner übertrieben hohen Geldforderung im Fall des ausgetauschten Rekruten. Sein Gefühl sagte ihm, daß sie ihn weder fürchteten noch achteten. Nun stand dieser zwanzig Jahre alte Leibeigene mit seinem seltsam würdevollen Gebaren vor Bobrov und brachte ruhig seine höchst ungewöhnliche Bitte vor: »Ich erbitte einen Paß, Herr, um Moskau zu besuchen.«
Als Leibeigener durfte Sawa ohne einen Paß seines Herrn nirgendwohin reisen. Das war an sich keine bedeutungsvolle Sache, doch Bobrov blickte ihn argwöhnisch an. »Warum, zum Teufel? Die ganze Stadt wurde doch niedergebrannt!«
»Genau das, Herr. Also ist das Wichtigste für die Leute dort warme Kleidung. Gerade jetzt könnten wir für unser Tuch einen guten Preis bekommen.«
»Das wäre ja Wucher.«
»Das ist Geschäft, Herr«, war die gelassene Antwort des Leibeigenen. »Nein, ich will das nicht«, schnappte Alexander zurück. »Das ist unpatriotisch.« Und schon war der Leibeigene durch einen Wink hinausgewiesen.
Hinterher überlegte Alexander oft, warum Tatjana sich an jenem Abend in diese unwichtige Angelegenheit eingemischt hatte. Vielleicht tat Sawa ihr einfach leid. Sobald er ihr nämlich davon berichtet hatte, bat sie ihn, die Sache doch noch einmal zu überdenken. Schließlich hatte er nachgegeben und einen Paß unterzeichnet.
1817
Es war ein kühner Plan, den Sergej Bobrov ausgeheckt hatte, doch mit einer genauen Zeiteinteilung müßte es gutgehen. Zwei Freunde sollten bestätigen, daß er sich im Hause befinde, ein dritter würde seinen Namen in die Anwesenheitsliste eintragen. Er hatte sich durch Bestechung eines Schulangestellten Pferde für den Hin- und Rückweg gesichert.
Die Schule in Zarskoje Sjelo bei St. Petersburg, in der Sommerresidenz des Zaren, war streng und elitär. Die Schüler hatten die persönliche Erlaubnis des Zaren zur Benutzung seiner Privatbibliothek. Alexander hatte allerlei Beziehungen spielen lassen müssen, damit Sergej aufgenommen worden war.
Die unerlaubte Fahrt würde nicht einfach werden. Es war April, und die Schneeschmelze hatte die Straßen in Morast verwandelt. Und wenn man ihn erwischte…
Sergej holte unter dem Bett die Schachtel mit seinen persönlichen Papieren hervor. Darin
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