Russka
nicht, daß aus ihm ein Priester werden könnte?« fragte Igor besorgt.
»Gott berührt jeden Menschen zur rechten Zeit. Wir wissen nicht, was aus uns werden soll.«
»Er sollte also nicht auf den geistlichen Stand vorbereitet werden?« Igor wollte Klarheit.
Der Alte wandte sich wieder Ivanuschka zu und legte ihm die Hand aufs Haupt, was als Segnung gedeutet werden konnte. »Ich sehe, daß du auf eine Reise gehst, von der du zurückkehren wirst.« Wieder wandte er sich ab.
Eine Reise? Ivanuschkas Gedanken wirbelten durcheinander. Meinte er damit seinen Plan, an den großen Don zu wandern? Das mußte es sein! Und er hatte nicht gesagt, daß er Priester werden würde. Es gab also immer noch Hoffnung. Unterdessen betrachtete der alte Mönch Igor mit ernster Miene. »Du fastest zuviel«, sagte er plötzlich. »Aber Fasten ist doch gestattet?« fragte Igor erstaunt. »Fasten ist der Zehnte, den wir an Gott bezahlen. Und der Zehnte ist ein Zehntel, mehr nicht. Du solltest dein Fasten einschränken.«
»Und meine Gebete?«
Ivanuschka wußte, daß sein Vater frühmorgens lange Zeit betete, und dann noch vier- oder fünfmal im Lauf des Tages. »Bete, soviel du willst, solange du deine Geschäfte nicht vernachlässigst«, entgegnete der Mönch scharf. Nach einer Weile fuhr er fort: »Das Fasten kam in unsere Kirche aus dem lateinischen Westen, weißt du, über das Land Mähren. Ich gehöre nicht zu denen, die den Westen verdammen, doch zu viel Fasten unter den Laien ist töricht.«
Seit mehr als zehn Jahren bestand praktisch ein Bruch zwischen den östlichen und westlichen christlichen Kirchen – zwischen Konstantinopel und Rom. Der Unterschied lag hauptsächlich in der Form der Anrede Gottes und der Dreifaltigkeit im Glaubensbekenntnis, und gewisse Abweichungen im Stil und in theologischer Emphase unterstrichen die Differenz. Der Papst beanspruchte höchste Autorität. Die Ostkirche stimmte dem nicht zu. Aber noch war es keine tiefe Spaltung.
»Ich tue, was du sagst«, antwortete Igor. »Was den Jungen angeht: Wenn er nicht Priester wird – was soll er sonst werden?« Der Mönch sah Ivanuschka nicht mehr an. »Das weiß Gott«, erwiderte er.
1067
Man sprach vom Goldenen Kiev. Aber es gab eine Schwierigkeit im Lande der Rus: Die Herrscher hatten ein politisches System eingeführt, das unter keinen Umständen funktionieren konnte. Das Problem lag in der Nachfolge.
Als man bestimmte, daß die Städte nicht vom Vater auf den Sohn, sondern vom Bruder auf den Bruder übergehen sollten, hatte man die verheerenden Folgen dieser Regelung nicht vorausgesehen.
Wenn also ein Fürst über eine Stadt herrschte, konnte er seine Söhne als Herrscher über die geringeren Städte in seinem Territorium einsetzen. Bei seinem Tode mußten sie normalerweise diese Städte an den nächstfolgenden Fürsten der Linie, vielleicht ohne Ausgleich, abgeben. Schlimmer noch: Falls einer der fürstlichen Brüder starb, bevor ihm die Stadt zugesprochen war, waren seine Kinder für alle Zeit von der Erbfolge ausgeschlossen. Es gab viele solcher besitzloser Fürsten ohne jede Aussicht, und diese wurden als isgoj bezeichnet, ebenso wie alle übrigen Besitzlosen oder Abhängigen in der russischen Gesellschaft.
Im Lauf der Generationen wurde es immer schwieriger festzulegen, wer Anspruch hatte und worauf. So verbrachte die herrschende Klasse in Kiev Jahrzehnte damit, provisorische Erbfolgeregelungen innerhalb eines undurchführbaren Systems auszutüfteln. Sie hat das Problem nie gelöst.
Der merkwürdigste unter allen Fürsten des Landes der Rus war der Fürst von Polock. Es hieß, er sei ein Werwolf. Jedenfalls war er furchtbar anzuschauen. Er sei mit einer Klappe über dem Auge geboren worden, hatte man Ivanuschka erzählt. Der Aufstand des Fürsten von Polock war Folge des Erbfolgesystems. Wenn er auch kein landloser isgoj war, blieb dieser Enkel Vladimirs des Heiligen doch von der Haupterbfolge ausgeschlossen. Das bedeutete, daß er, während er über die Stadt Polock herrschte, niemals eine der größten Städte des Landes der Rus erben konnte. Eine Zeitlang, während verschiedene adelige isgoj in entfernt gelegenen Territorien Schwierigkeiten machten, hatte der Fürst von Polock sich ruhig verhalten. Dann plötzlich hatte er mitten im Winter einen Schlag gegen die große Stadt Novgorod im Norden geführt. Igor und seine beiden älteren Söhne waren mit dem Fürsten von Kiev und seinen Brüdern nach Norden geritten. Wenn Ivanuschka nur hätte
Weitere Kostenlose Bücher