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Russka

Russka

Titel: Russka Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edward Rutherfurd
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ein Krieger, ein Mitglied der druzina geworden war. Er wußte, was verlangt wurde. »Ich kann mir nicht vorstellen, daß Ivanuschka Erfolg hätte«, meinte er traurig. »Du bist zu ungeduldig mit ihm«, entgegnete Olga. War er wirklich ungeduldig? Doch welcher Vater kann die Schwächen eines Sohnes ignorieren, auch wenn – was Igor niemals zugegeben hätte – es sein Liebling ist?
    Igor interpretierte das Erscheinen des Kometen auf seine Weise: Es konnte sein, daß Gott den Sohn für seine Dienste beanspruchte. Der Gedanke setzte sich in ihm fest, und er begann, wie es seiner Natur entsprach, Pläne für diese unerwünschte Lösung zu machen. Er führte ein langes Gespräch mit Vater Lukas, dem er all seine Gedanken offenbarte. Er bat den alten Mönch, sich den verträumten Knaben anzusehen und ihn zu ermutigen, falls dieser sich berufen zeigte.
    Erst am Tag davor hatte er es seiner Frau erzählt. »Nein! Ich bitte dich, stoße den Jungen nicht von uns«, hatte sie totenbleich gebeten.
    »Er wird nur ins Kloster gehen, wenn er selbst es will«, war Igors Antwort gewesen.
    Olga war tief bekümmert. Auch sie kannte ihren Jüngsten. Und es konnte tatsächlich sein Wunsch sein, Mönch zu werden – und dann hatte sie ihn für immer verloren.
    »Er kann hier in Kiev bleiben«, antwortete Igor. Insgeheim hoffte er in seinem Ehrgeiz, der Junge könnte für eine Weile in eines der berühmten griechischen Klöster auf dem fernen Berg Athos gehen. Dann stünde ihm der Weg zu höheren Kirchenämtern offen. »Ich kann ihn dann nie sehen.«
    »Alle Söhne müssen ihre Mütter verlassen«, fuhr Igor fort, »außerdem müssen wir uns fügen, wenn es Gottes Wille ist.« Aber wie steht es mit dem Jungen, der noch nie ein Kloster gesehen hat? fragte sich Igor. Er würde Ivanuschka die Wahrheit sagen müssen: daß er das Zeug zu einem Bojaren einfach nicht hatte. Schließlich standen sie vor der Klosterpforte. Als sie an das schwere Tor klopften, öffnete ein Mönch in einer schwarzen Kutte und verneigte sich vor ihnen. Sie traten ein und Ivanuschka blickte sich neugierig um.
    Es gab nicht viel zu sehen. Da standen eine kleine Holzkapelle und eine Gruppe von Wohnhäusern, daneben zwei niedrige, scheunenartige Gebäude; eines davon war das Refektorium, wo die Mönche aßen, das andere ein Siechenhaus. Eine Kathedrale gab es nicht, und Ivanuschka war ziemlich enttäuscht.
    Vor kaum zwanzig Jahren war Antonius der Einsiedler auf seiner Reise vom Berg Athos an diese einsame Stelle gekommen und hatte die Höhlen oberhalb des Dnjepr entdeckt. Bald hatten sich andere dem frommen Mann angeschlossen, und die kleine Gemeinde von etwa zwölf Einsiedlern hatte unter Leitung des Theodosius die Gebäude errichtet und ein Netz aus winzigen Zellen und Gängen unter der Erde geschaffen. Die Zellen befanden sich nun unter den Füßen der Besucher. Für Ivanuschka war es ein seltsamer Gedanke, daß die Mönche da unten waren, wie Kaninchen in ihrem Bau. Antonius lebte abseits von der Gemeinde in einer eigenen Höhle und tauchte nur gelegentlich aus wichtigem Anlaß auf. Ivanuschka und sein Vater stiegen ab. Ein Mönch führte ihre Pferde weg. Nach einigen geflüsterten Worten verschwand ein anderer Mönch in einer kleinen Hütte.
    »Von dort führt der Weg hinunter in die Höhlen«, erklärte Igor. Sie warteten. Nach einigen Minuten gingen zwei ältere Mönche in Begleitung eines jüngeren in die Kapelle. Einer trug eine schwere Kette um den Hals, und das Gehen machte ihm offensichtlich Mühe.
    »Warum trägt er diese Kette?« flüsterte Ivanuschka. »Um sich zu kasteien«, erwiderte der Vater kurz. »Er ist Gott nahe«, fügte er hinzu. Ivanuschka schwieg.
    Da öffnete sich die Tür der gegenüberliegenden Hütte langsam. Ivanuschka hielt den Atem an. Das war der Augenblick! Er sah den Saum eines Gewandes im Türrahmen und erwartete die strahlende Gestalt, die ihm sein Schicksal verkünden würde. Doch da trat ein kleiner hagerer, alter Mann aus der Tür. Sein graues Haar und sein Bart waren strähnig, und die schwarze Kutte, die von einem schäbigen Ledergürtel gehalten wurde, sah schmutzig aus. Der Alte schlurfte auf sie zu: ein junger Mönch kam hinter ihm her, als wolle er ihn auffangen, falls er stolperte. Vater Lukas' aschfahles Gesicht war voller Runzeln, die Brauen hingen herab. Als er vor ihnen stand, öffnete er seinen Mund zu einem Lächeln. Ivanuschka sah, daß einige Zähne fehlten. Die Augen waren keineswegs sonnengleich, sondern sie

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