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Russka

Russka

Titel: Russka Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edward Rutherfurd
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stirbt, und du kannst meinen Anteil haben.«
    »Das ist leicht gesagt«, spöttelte sein Bruder. »Natürlich sagst du das jetzt, nachdem du dem Kloster entronnen bist. Aber wir werden ja sehen.«
    1068
    Zwei Jahre lang kam es dem Jungen so vor, als sei der Einfluß des unheilvollen Gestirns ständig am Werke. Anders konnte er sich sein Pech nicht erklären.
    Es war nie zu einem Treffen zwischen ihm und dem jungen Fürsten Vladimir gekommen. Der Grund dafür, so hieß es, sei der Tod der griechischen Prinzessin. »Vladimir und sein Vater trauern um sie«, sagte Igor. »Es ist eine ungute Zeit. Nächstes Jahr wird es besser sein.«
    Warum aber hatte Vladimirs Vater, noch bevor das Jahr um war, eine neue Frau genommen, eine Kumanenfürstin? »Das ist Politik«, erklärte Igor. »Ihr Vater ist ein mächtiger Kumanenführer, und der Fürst möchte Perejaslavl vor Angriffen von der Steppe her schützen.« Doch nur Monate danach waren die Reiter gekommen und hatten das Land der Rus schlimmer als je zuvor niedergebrannt. Und immer noch hörte man nichts von Vladimirs Vater, den Besuch betreffend. Der Fürst hatte es versprochen, aber nun hatte er es anscheinend vergessen, und Ivanuschka verbrachte seine Zeit nutzlos in Kiev.
    Vielleicht hatte sein Bruder Svjatopolk die Wahrheit gesagt, als er ihm eines Morgens im Frühjahr ins Ohr zischte: »Du wirst niemals Vladimirs Page. Sie haben erfahren, daß du nichts taugst.« Als Ivanuschka fragte, wer ihnen das wohl gesagt haben könnte, hatte Svjatopolk lächelnd geflüstert: »Vielleicht war ich es.« Nachdem der Fürst von Polock geschlagen war, boten der Fürst von Kiev und sein Bruder dem Werwolf sicheres Geleit zu einem Familientreffen. Darauf lockten sie ihn schändlich in einen Hinterhalt und warfen ihn in Kiev ins Gefängnis, wo er immer noch saß. Igor hatte Ivanuschka erklärt, daß es ab und zu notwendig sei zu lügen. Aber Ivanuschka konnte das Ganze doch nicht verstehen.
    Schließlich kamen die Kumanen mit der Drohung, sie alle zu vernichten. Knapp eine Woche zuvor waren die Männer des Rus mitten in der Nacht ausgezogen, um den Angreifern aus der Steppe einen entscheidenden Schlag zu versetzen, und zwar in der Nähe von Perejaslavl. Sie hatten verloren. Zu ihrer Schande waren Igor und die Fürsten nach Kiev geflohen und hatten sich in der sicheren Befestigung der Zitadelle verschanzt. Tag für Tag hatte Ivanuschka erwartet, daß sein Vater und die Bojaren wieder einen Vorstoß unternehmen würden. Doch nichts geschah. Ob sie Angst hatten?
    Und nun, an einem hellen Septembermorgen, war die ganze Stadt in Aufruhr. Entsetzte Boten galoppierten heran mit der Nachricht, die Kumanen seien im Vormarsch. Im podol außerhalb der Zitadelle war die Volksversammlung, das berühmte vetsche, zusammengetreten. Alle waren da, und es wurde von Revolution gesprochen.
    Deshalb hatte er sich, anstatt bei der Familie im Fürstenpalast zu bleiben, hinausgeschlichen, überquerte die Brücke über die Schlucht zwischen der alten und der neuen Zitadelle und ging an der Sophien-Kathedrale zu den Toren des podol. Die neue Zitadelle lag in absoluter Stille. Man sah einige Frauen und Kinder und hin und wieder einen Priester auf der Straße, doch anscheinend waren ansonsten alle männlichen Bewohner zu dem vetsche in der Vorstadt gegangen.
    Ivanuschka wußte Bescheid über das vetsche. Selbst der Fürst von Kiev hatte Respekt davor. Normalerweise verhielt es sich ruhig unter der Aufsicht führender Kaufleute. In Krisenzeiten dagegen hatte jeder freie Mann in der Stadt das Recht, den Versammlungen beizuwohnen und zu wählen. »Wenn das vetsche revoltiert, ist es schrecklich«, hatte Igor ihm gesagt, »sogar der Fürst und die druzina können es nicht kontrollieren.«
    »Sind die Leute jetzt böse?« fragte Ivanuschka. »Sie sind außer sich. Du darfst nicht hinausgehen.«
    Auf seinem Weg durch die Zitadelle war der Junge so erregt, daß er den Ungehorsam gegen seinen Vater fast vergaß. Er lief durch das Tor auf den Marktplatz.
    Er hatte nie so viele Menschen auf einmal gesehen. Sie waren sogar aus den umliegenden Städten gekommen: Kaufleute, Handwerker, freie Händler und Arbeiter aus den russischen Stadtstaaten – einige tausend. Aller Augen waren auf die hölzerne Plattform in der Mitte gerichtet. Ein hünenhafter braunbärtiger Kaufmann in einem roten Kaftan stand dort mit einem Stab in der Hand und prangerte die Obrigkeit an. »Warum ist dieser Fürst hier in Kiev?« schrie er. »Warum

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