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Russka

Russka

Titel: Russka Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edward Rutherfurd
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zum Boden reichendes, ärmelloses Gewand, den bekannten sarafan, aus rotem Stoff und nach der Sitte mit geometrischen Vögeln in orientalischem Stil bestickt. Die Krönung des Ganzen bildete der hohe, tiaraartige Kopfschmuck, der kokoschnik, ein mit Gold- und Silberfäden und mit Flußperlen verziertes Diadem.
    Gegen Mittag gingen alle hinunter ins Dorf, um den Feierlichkeiten zuzusehen. Für diesen Tag fertigten die Bewohner von Bobrovo kleine Puppen von Yarillo, dem alten Fruchtbarkeitsgott, und Kupala, seinem weiblichen Pendant. Nachdem sie durchs Dorf getragen worden waren, wurden die Puppen in den Fluß geworfen, eine Verbindung aus Taufe und ritueller Tötung, was in früherer Zeit Wiedergeburt bedeutet hatte.
    Dann gingen sie in der warmen Sonne nach Hause, wo ein köstliches Mahl vorbereitet war: pirozki aus Fleisch, kalter schtschi, die sommerliche Abwandlung der Kohlsuppe; Forelle, Truthahn und blinis. Es gab Kirsch-, Apfel- und Himbeerkuchen, begleitet von Bergen saurer Sahne. An Getränken wurden Kwaß, Wein und ein halbes Dutzend unterschiedlich schmeckender Wodkasorten serviert.
    Bald darauf erschienen die Frauen aus dem Dorf in ihren wunderschönen Kleidern, stellten sich in einem Kreis auf und sangen die hübschesten russischen Volksmelodien, die alten Kupala-Lieder. Mischa und die beiden Kleinen waren zu Bett gebracht worden, und die rötliche Sonne schien sanft über dem Wald, als sie sich gemeinsam zu den Quellen aufmachten. Tatjana und Ilja fuhren in einem kleinen Wagen, den ein Knecht lenkte. Die übrigen gingen zu Fuß, nahmen den Weg durch den Wald, der zum Kloster führte. Dann überquerten sie den Fluß unterhalb der Stadt. Bald darauf mußten Tatjana und Ilja den Wagen stehenlassen und folgten dem Pfad, der sich am Fluß entlang bis zu den Quellen hinzog. Sie gingen paarweise: Olga und Pinegin vorne, dann Karpenko und die junge Arina, dahinter Sergej mit der alten Arina, Ilja und Tatjana schlossen allmählich auf.
    Im Mondlicht war der Pfad gut zu erkennen. Sergej beobachtete die übrigen. Da war Pinegin, wie immer in Weiß, neben Olga, und das in gebührendem Abstand. Sergej sah Olgas anmutigen Gang. Karpenko legte verstohlen den Arm um Arina. Sergej bemerkte, wie Ilja über eine Wurzel stolperte, die seine Mutter geschickt umgangen hatte. Jeder ist in Gedanken versunken in dieser Nacht, überlegte er; jeder hat seine geheimen Hoffnungen.
    Sergej hatte solche Gefühle noch nie gehabt. Während seiner Kindheit war Olga immer seine Freundin, seine Vertraute gewesen. Sie war wie ein Teil von ihm und er von ihr; jeder kannte die Gedanken des anderen, immer, ohne daß darüber gesprochen wurde. Doch dann wurden sie getrennt, was zu erwarten gewesen war. Das Leben schien Sergej recht hart. Seine Karriere als Schriftsteller ging nur langsam vorwärts. Das Geld war knapp, und oft war er ziemlich einsam. Abend für Abend machte er sich ans Schreiben. Doch die Verse kamen nur mühsam, und oft gab er auf. Die Hoffnung auf Ruhm schien sich nicht zu erfüllen. Er entwickelte beim Dichten allerdings eine Methode. Er stellte sich Olga als ständige Zuhörerin vor. Wenn er etwas Bewegendes schrieb, wollte er sie bewegen; war es etwas Lustiges, bedeutete dies, daß er sie zum Lachen bringen wollte. Oft rief er, allein in seiner Wohnung: »Meine Olga, du wenigstens wirst verstehen.« Und so war Olga, ohne daß sie es wußte, in all diesen Jahren Sergejs imaginäre Begleiterin.
    Ob es wohl eine Enttäuschung sein würde, hatte er überlegt, wieder mit ihr im Haus der Familie zu leben? Verheiratet, verwitwet, mit Kindern – er dachte, daß sie sich verändert haben müsse. Er war keinesfalls auf jene überwältigende Entdeckung vorbereitet, die er gleich am ersten Tag machte und die ihn mitunter erzittern ließ: Olga erfüllte seine Gedanken. Alles tat er nur für sie. Seine ShakespeareÜbersetzungen, die sie so liebte, hatte er Wort für Wort für sie verfaßt. Alles andere – die üblichen Witze, der alberne Streit mit Alexej – war nur ein verrücktes Spiel, um sie beide abzulenken, gespielt von einem Mann, der eine Maske tragen mußte, weil seine Liebe verboten war. Niemals zuvor, das wußte er nun, hatte er Leidenschaft empfunden. Er war am Ende. Heute nacht, das hatte er sich gelobt, mußte die Sache bereinigt werden. Die Quellen stürzten noch immer, wie schon vor Jahrhunderten, in silbernen Kaskaden vom Hochufer in den Fluß. Es war tiefe Nacht. Die Sterne glänzten. Die kleine mondbeschienene

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