Russka
Dinge miteinander zu besprechen«, hatte er seiner Frau prophezeit.
Der Salon war ein langgestreckter, freundlicher Raum, möbliert mit Stühlen und Sofas nach französischen Entwürfen. Schwere blaue Vorhängen, in der Mitte geteilt und beidseitig durch große Quasten gerafft, rahmten die Fenster. An einer Wand stand ein schöner Bücherschrank aus Mahagoniholz mit Glastüren. Den Kaminsims krönte eine Uhr aus schwarzem Marmor, einer griechischen Tempelfront nachempfunden. Ein runder Tisch in einer Ecke des Zimmers war mit einem bunten türkischen Teppich bedeckt. Zahllose Familiengemälde schmückten die Wände. Und auch zu beiden Seiten des Bücherschranks hingen Bilder – farbenfrohe Studien; eines zeigte eine Landschaft bei Sonnenuntergang, das andere das faltige Gesicht eines Bauern. An diesen Gemälden, die aus der neuen Schule, bekannt als »Die Wanderaussteller«, stammten, hatte Mischa große Freude. »Sie sind die ersten wirklichen russischen Maler seit den Ikonenmalern«, sagte er. In seinem Arbeitszimmer hatte er sogar eine kleine Skizze von dem besten dieser Maler, dem hervorragenden Ilja Repin, die einen Treidler an der Wolga zeigte.
Auf dem Tisch lagen mehrere umfangreiche Zeitschriften; das waren die sogenannten dicken Journale, die charakteristisch für das geistige Leben des damaligen Rußland waren. Darin wurden in Fortsetzungen die neuesten Werke der großen Schriftsteller gebracht: Tolstoj, Dostojevskij, Turgenjev. Daneben enthielten sie politische Kommentare der radikalsten Art. Mischa Bobrov hatte sie in seinem Salon aufliegen und zeigte damit, daß er sich über das Tagesgeschehen auf dem laufenden hielt. An diesem Tisch nun begrüßte der Gutsbesitzer die beiden jungen Männer, als sie herunterkamen. Als werde er nicht von brennender Neugier geplagt, sprach er leichthin über die Hauptstadt, das Wetter, erwähnte, daß seine Frau gleich dasein werde. Doch schließlich kam er auf sein eigentliches Thema – in so betont lässiger Manier, daß Nikolaj fast lachen mußte: »Ich hoffe, ihr habt die Arbeit auf den Feldern heute genossen… Darf man fragen, was genau ihr gemacht habt?«
Darauf antworteten die jungen Männer, was sie vereinbart hatten. Man setzte sich zum Mahl, Mischa am Kopfende des Tisches. Im warmen Kerzenschimmer wirkte er sehr zufrieden. Sein Gesicht war leicht gerötet vom köstlichen Rotwein und von der Verve, mit der er sich in die Unterhaltung einließ. Im Grunde war er der einzige, der sprach. Anna, seine Frau, die groß und dunkel das andere Tischende zierte, steuerte hin und wieder Ansichten bei, die zwar durchaus klar waren, aber nicht immer ihrem eigenen Denken entstammten. Die jungen Herren wollten also die Verhältnisse im Dorf kennenlernen. Es war eine ganz neuartige Idee, Seite an Seite mit den Bauern zu arbeiten, doch Mischa fand dies recht löblich. Als Popov erzählte, er sammle Volkserzählungen, war Mischa begeistert. »Ich kenne die meisten von Krylovs Märchen auswendig«, schwärmte er.
Mischa Bobrov war der Meinung, er habe ein gutes Verhältnis zu Studenten. Zuallererst war er an Erziehung interessiert. Er ließ die beiden auch wissen, daß er den Erziehungsminister hasse. Aus irgendeinem Grund war der Zar diesem Mann gewogen, einem gewissen Grafen Dmitrij Tolstoj, entfernt verwandt mit dem großen Romanschriftsteller. Wegen seiner Methoden hieß er im Erziehungsministerium »Unterdrücker«. Und als Mischa erfuhr, daß Popov an der medizinischen Fakultät studiert hatte, wo es einige Jahre zuvor einen großen Studentenstreik gegeben hatte, erklärte er eilends: »Ich kann jeden Studenten verstehen, der bei diesem verfluchten Tolstoj im Ministerium revoltieren will.« Er sprach mühelos über Literatur, die neuesten radikalen Essays in den Zeitungen und über Politik. Er lieferte einen so eindeutigen Beweis seiner fortschrittlichen Ideen, daß er sicher war, die beiden jungen Männer beeindruckt zu haben, obwohl sie kaum etwas sagten – oder vielleicht gerade deshalb. Doch gegen Ende der Mahlzeit gab es eine peinliche Überraschung für Mischa. Er hatte Jevgenij Popov während des Gespräches aufmerksam beobachtet. In Mischas Jugend waren fast alle Studenten aus seiner eigenen, der Adelsklasse gekommen; doch seit Mitte des Jahrhunderts trat eine neue Generation gebildeter Menschen auf den Plan: Söhne von Priestern, kleineren Beamten und Kaufleuten – Männer wie der junge Popov. Mischa war ganz damit einverstanden. Bei Popov hatte er zudem das
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