Russka
diese abscheulichen Fabriken sollen meine Familie ernähren. Nein, es ist unerträglich! Als sie den Schlafraum schon fast verlassen hatten, wandte Peter sich noch einmal um und sah eine Szene, die nicht für ihn bestimmt war. Am anderen Ende des Raumes war ein junger Mann gerade dabei, Sawa Suvorin vor den Umstehenden zu imitieren. Abgesehen davon, daß er klein und mager war, agierte er nicht schlecht. Da sah einer jedoch, daß Peter sie beobachtete, und auf seine Warnung hin brach der Mann die Vorstellung ab. Es war ein Schlag für Peter. Nie zuvor hatte er blanken Haß gesehen. Mein Gott, dachte er, dieser Bursche meint, ich sei wie Großvater. Wenn er nur die Wahrheit wüßte! Aber da wurde ihm schrecklich klar, daß der Junge wohl keinen Wert auf seine Sympathie legte. Es genügte, daß er ein Suvorin war. Eilig entfernte er sich. Er kannte den jungen Mann flüchtig. Er hieß Grigorij.
Natalia lief rasch den Weg nach Russka entlang. Sobald sie ihren Vater niedergeschlagen von seiner Unterredung mit dem Dorfältesten hatte zurückkommen sehen, war sie hinausgeschlüpft. Sie wußte genau, was sie erwartete. Man würde sie in die Fabrik von Suvorin schicken, wo sie ihren Lohn zum Unterhalt der Familie würde beisteuern müssen – sicher würde sie schließlich eine alte Jungfer sein und Sklavin für immer bleiben. Mischa Bobrov war immer freundlich zu ihrem Vater, und sie durfte als kleines Mädchen zusammen mit Boris drei Jahre lang die Schule in Russka besuchen, wo sie Lesen lernte. Wenn sie auch arm war – diese ungewöhnliche Fähigkeit erfüllte sie mit Stolz. Obwohl sie wußte, was es für sie bedeuten würde, hatte sie Boris ermutigt, von zu Hause auszuziehen. Sie liebte ihn. Wenigstens er sollte glücklich werden. Für sich sah Natalia nur einen einzigen Ausweg: Sie mußte Grigorij aufsuchen.
Mischa Bobrov und seine Frau Anna strahlten vor Freude. Als eben die Dämmerung hereinbrach, langte die kleine Kutsche auf dem Besitz in Bobrovo an. Zu ihrer Überraschung sprang ihr Sohn Nikolaj heraus, umarmte sie und erklärte: »Man hat mir von der Universität freigegeben, damit ich eher nach Hause komme, und hier bin ich.« Er fügte hinzu, er habe einen Freund mitgebracht. Mischa führte die Besucher ins Haus.
Mischa Bobrov hatte sich immer glücklich geschätzt, daß er so gut mit seinem Sohn auskam. Er erinnerte sich an die lastende Atmosphäre um seinen strengen Vater Alexej und hatte beschlossen, daß es in Bobrovo nie wieder so sein dürfe. Für ihn war das ganz natürlich, denn er war ein gütiger, unbeschwerter Mensch. Vor allem liebte er die Diskussion mit dem Jungen. »Genau wie der liebe Sergej und der alte Onkel Ilja«, sagte er. Natürlich war er auch stolz auf sein eigenes Geschick im Debattieren. Selbst wenn Nikolaj mitunter hitzig wurde, was bei jungen Menschen vorkommt, hatte Mischa nichts dagegen.
Die beiden Reisenden waren müde, und nach dem Essen baten sie, sich bald zurückziehen zu dürfen. »Ich sehe schon, daß wir großartige Diskussionen mit diesen beiden jungen Männern haben werden«, erklärte Mischa seiner Frau, als sie später im Salon saßen. »Vielleicht ist man nicht mit allen Vorgängen an den Universitäten einverstanden, aber die jungen Leute kommen doch immer voller neuer Ideen zurück.«
Nur eins irritierte ihn: Er hatte das Gefühl, Nikolajs Freund irgendwoher zu kennen. Aber sosehr er sich zu erinnern versuchte, es fiel ihm nicht ein. Jevgenij Pavlovitsch Popov, so wurde der Bursche mit dem rötlichen Haar vorgestellt. »Haben wir uns schon einmal gesehen?« fragte Mischa. »Nein.«
Damit schien das Thema abgehandelt. Doch in der Nacht ging diese kleine Merkwürdigkeit dem Landbesitzer – neben vielen anderen Dingen – im Kopf herum.
Nicht nur wenn sein Sohn zu Besuch kam, machte Mischa Bobrov sich Gedanken über die Zukunft. Welche Art von Besitz würde er dem Jungen übergeben können? Es war bezeichnend für Mischa Bobrov, daß er überzeugt war, alles laufe insgesamt und in der Zukunft gut, auch wenn es für ihn persönlich eher schlecht gelaufen war. Er erklärte stets, es gebe Gründe, optimistisch in die Zukunft zu blicken. Dies war einer der wenigen Punkte, in denen er und seine Frau nicht übereinstimmten.
Tatsächlich stand es um den Besitz der Bobrovs extrem schlecht. Nicht nur die Bauern waren enttäuscht von den Konsequenzen der Freilassung, die 1861 durch kaiserliches Manifest verfügt worden war – den Landbesitzern erging es kaum anders. Als
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