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Russka

Russka

Titel: Russka Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edward Rutherfurd
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die Leibeigenschaft abgeschafft wurde, hatte Mischa Bobrov – wie die meisten Gutsbesitzer in der Gegend – bereits siebzig Prozent seiner Leibeigenen als »Hypothekensicherheit« an die Staatsbank überschrieben. Im ersten Jahrzehnt nach dem Erlaß ging die Hälfte seiner Abfindungszahlungen zur Schuldentilgung an die Bank. Außerdem verloren die Staatspapiere, die er in Teilzahlung erhielt – jene Papiere, deren Tilgung die Bauern so hart ankam –, durch die Inflation rasch an Wert.
    Bobrov hatte Schulden und verfügte kaum über Barmittel, also fiel es ihm schwer, die Fronarbeit seiner ehemaligen Leibeigenen zu bezahlen, damit das von ihm verlassene Land bestellt würde. Manche Flurstücke hatte er an Bauern vergeben, andere an Kaufleute verpachtet; er fürchtete, daß er bald weiteres Land verkaufen müsse. So wurde er von Jahr zu Jahr ein bißchen ärmer. Dennoch blieb er optimistisch.
    Dafür sah Mischa Bobrov mehrere Gründe, und während er jetzt schlaflos im Bett lag, führte er sie sich einzeln vor Augen: Das russische Reich war gefestigter und stärker als in seiner Jugend. Nach jahrhundertelangen Konflikten schien das riesige Land endlich seine natürlichen Grenzen erreicht zu haben. Das weite Territorium Alaskas war zwar 1867 an die Vereinigten Staaten von Amerika verkauft worden, doch in der Zwischenzeit festigte Rußland seinen Einfluß am fernen Pazifik, an der Eurasischen Ebene, wo der neue Hafen von Vladivostok gegenüber von Japan einen lebhaften Fernosthandel versprach. Im Süden hatte sich Rußland – nach der Katastrophe auf der Krim – erneut die Seerechte auf dem Schwärzen Meer gesichert. Im Südosten verleibte es sich nach und nach die Wüsten jenseits des Kaspischen Meeres ein mit ihren wilden Fürsten und reichen Karawanen. Im Westen war der letzte polnische Aufstand niedergeschlagen worden, und Rußland, nun in enger Allianz mit Preußen, befand sich im Frieden mit seinen westlichen Nachbarn. Und wenn es auch hieß, das preußische Königreich mit seinem brillanten Kanzler Bismarck sei ein wenig zu machthungrig – was bedeutete das schon für das Zarenreich, das ein Sechstel der Landmasse des Globus bedeckte? Der eigentliche Grund für Bobrovs Optimismus waren jedoch die Vorgänge innerhalb Rußlands. »Wir haben in den vergangenen fünfzehn Jahren mehr Reformen erlebt als jemals seit Peter dem Großen«, meinte er. Zar Alexander II. erkannte die Notwendigkeit von Reformen und machte erstaunliche Fortschritte. Das überkommene brüchige Rechtssystem wurde von Grund auf erneuert. Nun gab es Gerichtshöfe mit unabhängigen und unabsetzbaren Richtern und Staatsanwälten, die Verhandlungen wurden öffentlich abgehalten. Für Strafprozesse gab es sogar Geschworenengerichte. Auch das Militär wurde reformiert; jedermann, Adliger und Bauer, unterstand der Wehrpflicht, jedoch nicht, wie bis dahin, fünfundzwanzig, sondern nur sechs Jahre. Außer in den Eliteregimentern konnte es auch ein Mann einfacher Herkunft zum Offizier bringen. Am meisten aber freute sich Mischa Bobrov über die neuen örtlichen Körperschaften. Diese gingen unter dem Begriff der zemstvos – »das Land und die Gemeinde betreffend« – in die Geschichte ein. Das waren somit die gesetzlich eingeführten Organe der lokalen Selbstverwaltung. Die dumas, hergeleitet von der duma, dem früheren Beraterkollegium des Zaren, waren Organe der städtischen Selbstverwaltung. So etwas hatte es in Rußland bis dahin nicht gegeben. In jedem Bezirk, ob Stadt oder Provinz, wurden diese Organe von allen Steuerzahlern, ob Adel, Kaufmann oder Bauer, gewählt. Jetzt also ist Rußland auch in die moderne Welt der Demokratie eingetreten, dachte Mischa zufrieden.
    Als er schließlich doch am Einschlafen war, dämmerte ihm plötzlich, mit wem der so vertraut wirkende Gast Ähnlichkeit haben könnte. Hatte der Bursche nicht gesagt, sein Vatername sei Pavlovitsch? Und hatte nicht jener alte Priester in Russka mit dem roten Haar einen Sohn, der Popov hieß? Mischa beschloß, der Sache am nächsten Morgen nachzugehen.
    Doch am Frühstückstisch empfing ihn sein Diener mit einer höchst ungewöhnlichen Neuigkeit. »Der junge Herr Nikolaj ging mit seinem Freund schon vor der Dämmerung aus, Michail Alexejevitsch. Sie waren wie Bauern gekleidet, und sie sagten, sie wollten sich Arbeitsuchen.« Mischa Bobrov runzelte die Stirn. Was das wohl bedeuten mochte?
    Grigorij war neunzehn, hatte ein hageres Gesicht, langes fettiges schwarzes Haar, das er in

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