Russka
der Mitte gescheitelt trug. Er war von eher schwächlicher Statur, und Gott hatte ihn auch sonst nicht gerade mit körperlichen Vorzügen verwöhnt. Doch Grigorij war entschlossen, seinen Weg zu machen. Er stammte aus einer achtköpfigen Familie. Sein Vater hatte als Leibeigener in einem Haushalt gearbeitet und verrichtete nun in Vladimir Gelegenheitsarbeiten. Seine Kinder schickte er, kaum daß sie zehn Jahre alt waren, zur Arbeit. Als Grigorij im Alter von dreizehn sagte, er wolle von zu Hause fort, hatte der Vater nichts dagegen. Einen Rat gab er seinem Sohn noch mit: »Nimm von den Frauen, was du nur kriegen kannst, Grigorij, aber paß auf! Manchmal tun sie freundlich, doch in Wirklichkeit wollen sie dir weh tun. Denk immer daran!« So zu Mißtrauen angehalten, beobachtete er Natalia Romanovs Werben um ihn höchst skeptisch. Was fand sie nur an ihm? Sie war ein munteres Geschöpf, ihr Vater hatte ein eigenes Pachtgut. Gemessen an Grigorijs Familie waren die Romanovs reich. Warum nur hatte sie ihn am Abend zuvor gebeten, sie zu heiraten? Er hatte sie argwöhnisch angesehen: »Das muß ich mir überlegen.« Als die beiden als Bauern verkleideten jungen Männer an jenem Morgen im Dorf erschienen, erkannte sie zuerst niemand, bis auf Arina, die aus dem Haus kam, einen Blick auf sie warf und dann laut rief: »Nikolaj Michailovitsch, wie groß du geworden bist!« Die alte Frau ließ nicht locker, und so saßen sie gleich darauf in der isba der Romanovs am warmen Ofen und aßen Konfekt. Als die Familie hörte, daß Nikolaj und sein Freund im Ort arbeiten wollten, waren sie verblüfft. Als aber Timofej nachfragte, ob sie Lohn dafür verlangten, und sie das verneinten, wurden seine Augen groß – welch glücklicher Zufall!
So fand ein überraschter Mischa Bobrov zwei Stunden später seinen Sohn und den jungen Popov friedlich mit dem Bauern am Rand eines großen Feldes bei der Arbeit. Klugerweise mischte er sich nicht ein, er schüttelte nur belustigt den Kopf über die ausgefallenen Ideen der jungen Leute und ging nach Hause. Auch Natalia beobachtete die beiden Besucher neugierig. Nikolaj Bobrov hatte sie zum letztenmal gesehen, als sie noch ein kleines Mädchen war. Er sah gut aus mit dem sorgfältig gestutzten Schnurrbart und mit seinen leuchtendblauen Augen, fand sie. Dagegen wußte sie nicht, was sie von dem Freund mit dem rötlichen Haar halten sollte. Er ließ immer Nikolaj reden. Natalia liebte ihre Familie, vor allem ihren Bruder, und sie wußte, daß ihre Eltern sie brauchten, nun da Boris ausziehen würde. Doch als am Abend zuvor Timofej ihr eröffnet hatte, sie müsse in die Fabrik gehen, war sie verärgert, wie kalt ihr Vater über ihr Leben verfügte. Wenn ich das für sie tue, dann will ich auch etwas für mein eigenes Glück tun, beschloß sie, und damit meinte sie Grigorij. Andere mochten sich vielleicht über ihre Wahl wundern. Doch sie selbst sah ihre Situation realistisch. Ihre Aussichten waren nicht gut im Dorf. Wenn dieses neue Kind geboren würde, könnte ihr Vater ihr sicher keine Mitgift zukommen lassen. Da sie keine Schönheit war, konnte sie von Glück sagen, wenn sie einen der besseren Dorflungen bekam. Und der kleine Bursche in der Fabrik mit seinem Geschick und seiner verschmitzten Art hatte es ihr angetan. Sein innerer Schwung faszinierte sie. Kein anderer Junge im Ort war so. Ihr »Heiratsantrag« kam also nicht aus purer Berechnung. Als sie Bekanntschaft schlossen, lehrte sie ihn lesen, und sie war erstaunt von seiner raschen Auffassungsgabe. Er stürzte sich auf jedes neue Thema und ließ nicht locker, bis er es beherrschte.
Entweder kann er bei uns im Dorf leben, dann bringen wir zwei Löhne nach Hause, oder wenn sie ihn nicht aufnehmen wollen, ziehe ich zu ihm nach Russka, dann bekommen sie gar nichts, dachte sie.
Nikolaj war zufrieden; der erste Tag war gut vorübergegangen. Auch Jevgenij sah die Entwicklung positiv. »Sie werden schon Vertrauen zu uns fassen«, meinte er, »aber vergiß nicht, daß wir vorläufig niemandem etwas verraten dürfen.« Nikolaj sagte sich zum wiederholten Mal, welch ein Glück er mit Popov habe. Auch wenn der manchmal so geheimnisvoll tat, daß man das Gefühl hatte, er halte irgendeine Mitteilung zurück. Nikolaj glaubte, daß ihrer beider Namen eines Tages in den Geschichtsbüchern verzeichnet sein würden.
Mischa Bobrov erwartete die beiden jungen Männer im Salon zum Abendessen. Er war sehr gespannt. »Du wirst sehen, wir haben eine Menge wichtiger
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