Russka
Er musterte sie eingehend. »Aber ihr dürft mit dieser Person nicht sprechen, und ihr dürft niemandem ihre Identität preisgeben.« Dann fügte er ernst hinzu: »Das Zentralkomitee weiß genau, wie es mit Verrätern umzugehen hat.« Offensichtlich hatte er die beiden beeindruckt.
»Keine Sorge. Wir machen das schon«, erklärte Grigorij grinsend. Am folgenden Tag fand der junge Peter Suvorin sich, wie verabredet, an einer einsamen Stelle in der Nähe von Grigorijs Unterkunft ein. Er übergab dem jungen Mann und Natalia, die ihn dort erwarteten, ein in einfaches weißes Papier gewickeltes Päckchen. Peter befolgte seine Anweisungen genau. Er hatte keine Ahnung, was das Päckchen enthielt. Er sprach kein Wort mit den beiden, und sie sprachen ihn nicht an. Doch als er das überraschte Pärchen verließ, hüpfte sein Herz vor Freude.
Dazu war Grund genug. Hatte Popov ihm denn nicht erzählt, daß dieser Grigorij Beziehungen zum Zentralkomitee habe? Und waren diese jungen Leute, die allen Anlaß gehabt hätten, ihn zu hassen und zu verachten, jetzt nicht seine Kameraden? Er wurde akzeptiert. Endlich brach er mit seinem furchtbaren Erbe. Das erstemal seit Wochen lächelte er wieder.
Boris blickte seine Schwester liebevoll und zugleich schuldbewußt an. Sie hatten eine ruhige Stelle am Fluß gefunden, wo sie ungestört waren, und erst als sie sich setzten, wurde ihm plötzlich bewußt, daß sie seit Wochen nicht mehr allein miteinander gewesen waren. Das war wohl seine Schuld: Irgendwie war er in den vergangenen Wochen immer sehr beschäftigt gewesen. Natalia mußte sich sehr einsam gefühlt haben, lief sie deshalb diesem Grigorij hinterher?
Er hörte ihr aufmerksam zu, während sie ihr Herz ausschüttete. »Ich werde heiraten. Sie mögen Grigorij nicht, aber wenn ich von ihm schwanger werde, bleibt ihnen nichts anderes übrig, als ihn zu akzeptieren, nicht wahr?«
»Liebst du ihn denn?«
»Natürlich.«
Boris sagte nichts, aber überzeugt war er nicht. Im Gegenteil. Wenn wir nur mehr Geld hätten, dachte er. Dann brauchte Natalia nicht in der Fabrik zu arbeiten und könnte im Dorf einen Ehemann finden. Und wer hatte all diese Schwierigkeiten verursacht? Er selbst war es gewesen mit seinem Weggehen. Er legte seinen Arm um Natalia. »Unternimm nichts, wenn du nicht ganz sicher bist«, riet er ihr. So blieben die beiden eine Zeitlang sitzen, genossen ihre Verbundenheit und den Frieden des Flüßchens.
Deshalb war Boris überrascht, als Natalia plötzlich ein Stück Papier aus ihrer Bluse hervorholte. »Lies das«, bat sie ihn. Es war ein ungewöhnliches Dokument – kurz und bündig. Unter Verwendung der gleichen Ausdrücke, die Nikolaj Bobrov gebraucht hatte, wurden die Bauern aufgefordert, sich auf den Tag vorzubereiten, an dem eine Revolution eine neue Welt einleiten würde. Darin wurde besonders die neue Klasse der Ausbeuter angegriffen, Fabrikbesitzer wie Suvorin, »die euch schlimmer ausbeuten als das Vieh«. Diese Leute müßten ausgemerzt werden. Boris wurde es schwer ums Herz. »Woher hast du das?«
»Das spielt keine Rolle.«
»Aber es ist gefährlich, Natalia.«
»Ich dachte, du seist für die Revolution. Das hast du jedenfalls Nikolaj Bobrov erzählt.«
»Ich möchte mehr Land. Aber dies hier…« Er schüttelte den Kopf. »Das ist etwas anderes. Du hältst dich da heraus. Hat Nikolaj Bobrov es dir gegeben?«
»Nein.«
»Wer denn?«
»Das errätst du nie! Sag niemandem, daß ich es dir gezeigt habe.«
»Verlaß dich drauf. Ist Grigorij mit im Geschäft? Hat er dich da hineingezogen?«
»Vielleicht, vielleicht auch nicht. Vielleicht habe ich ihn dazu gebracht.«
Boris gab ihr das Flugblatt zurück. »Ich habe dies hier nie gesehen, Natalia. Falls du mehr davon hast, mußt du sie verbrennen.« Damit stand er auf.
Es war seine Schuld, er wußte das – seine Schuld, daß seine Schwester in diese verfluchte Fabrik ging, daß sie sich entschlossen hatte, Grigorij zu heiraten, und daß sie in diese gefährliche Geschichte verwickelt war. Er mußte etwas tun. Aber was? Sawa Suvorin war ein gründlicher Mann. Täglich inspizierte er die Werkstätten, und dabei entging seinen scharfen alten Augen nichts. Allerdings berichtete ihm auch sein Vorarbeiter alles, was geschah. Und selbst die kleinste Neuigkeit aus Bobrovo interessierte Sawa. Der Alte war guter Laune. Zwei Wochen zuvor hatte er sich ernstliche Sorgen um seinen Enkel gemacht. Der Junge war plötzlich so schwermütig, daß er und seine Frau um
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