Russka
seine Gesundheit fürchteten. Doch in den letzten Tagen war eine Wende eingetreten; Peters Gesicht war wieder fröhlicher, schien wieder Interesse am Leben zu haben.
Eines Morgens bemerkte Sawa, wie Grigorij einem Mitarbeiter ein Blatt Papier zusteckte. Zuerst machte er sich keine Gedanken darüber. Auch als er zufällig sah, wie der Mann kurz darauf das Papier unter seine Maschine schob, stellte er sich nicht vor, daß das irgend etwas Wichtiges sein könnte. Doch er war neugierig geworden und holte am Abend das Papier hervor. So entdeckte er eines von Popovs Flugblättern.
Er bekam einen solchen Zornanfall, daß er seinen dicken Stock überm Knie zerbrach. Einen Augenblick lang wollte er sich Grigorij vornehmen und ihn fix und fertig machen. Es war jedoch eine Maxime des alten Mannes, nie übereilt zu handeln – sein hartes Leben hatte ihn dies gelehrt. Wie kam Grigorij zu diesem Flugblatt, überlegte er. Der mittellose junge Bauer konnte nicht selbst die Initiative ergriffen haben! Sawa steckte das Blatt in die Tasche. Einige Stunden später blickte Timofej Romanov am Rand eines Gerstenfeldes ungläubig auf seinen Sohn, denn der Vorschlag, den Boris seinem Vater gemacht hatte, traf den alten Mann völlig unvorbereitet. »Wir sollten Bobrov um Geld angehen – genügend, um Natalia eine Mitgift zu geben?«
»Ja, und auch um deine Schulden zu bezahlen.«
»Aus welchem Grund sollte er darauf eingehen?«
»Sagen wir mal, aus Freundschaft zu dir. Habt ihr nicht als Kinder miteinander gespielt? Hat er dir nicht früher auch schon geholfen?«
»Er hat selbst nicht viel«, gab Timofej zu bedenken. »Er wird sicher ablehnen.«
»Vielleicht kann er nicht ablehnen. Er hat eine Schwachstelle. Vergiß nicht, daß Nikolaj fast verhaftet worden ist.«
»Aber der ist krank.«
»Das habe ich auch gedacht, aber es stimmt nicht. In Wirklichkeit bereiten sie eine Revolution vor. Ich bin ganz sicher.«
»Wie kannst du das wissen?«
»Weil ich es weiß. Und wenn Nikolajs Krankheit nur vorgetäuscht ist, können wir Mischa Bobrov drohen, die Wahrheit bekanntzumachen. Dann wird er dir vielleicht doch lieber helfen – begreifst du?«
»Du meinst, ich sollte ihn erpressen?« Boris schmunzelte. »So ungefähr.«
Timofej schüttelte den Kopf. »Das kann ich nicht«, erklärte er. »Ich würde dich begleiten«, schlug Boris vor. »Wir fühlen ihm einfach auf den Zahn. Du wirst sehr bald merken, ob er nervös ist.« Als Timofej immer noch unglücklich dreinsah, fügte Boris hinzu: »Überlege es dir, Vater.«
Die Mittagssonne stand am nächsten Tag am Himmel, als die Bewohner von Bobrovo beim Anblick der hohen Gestalt des Sawa Suvorin mit dem Zylinder, dem schwarzen Gehrock und dem neuen Spazierstock erzitterten. Suvorin durchquerte jedoch schnurstracks den Ort, ohne links und rechts zu schauen, und ging hinauf zum Hause Bobrov.
Zweiundzwanzig Jahre waren vergangen, erinnerte der alte Mann sich grimmig, daß er mit seinem Vater ebendiesen Pfad hinaufgegangen war, um die Erlaubnis zum Besuch Moskaus zu erbitten. Siebenundvierzig Jahre waren vergangen, seit Alexej Bobrov ihn nach seiner erneuten Festnahme hergebracht und als entlaufenen Leibeigenen hatte auspeitschen lassen. Jede Einzelheit jener Ereignisse war frisch in seinem Gedächtnis geblieben. Sawa vergaß nichts.
Nun hatten die Landbesitzer, die ihn wie einen Hund gehalten hatten, natürlich Angst vor ihm. Und eben jetzt hatten sie ihm die Möglichkeit an die Hand gegeben, sie zu ruinieren. An den grundsätzlichen Tatsachen hegte er kaum einen Zweifel. Er hatte selbstverständlich von den Vorkommnissen in Verbindung mit Nikolaj Bobrov im Ort gehört – wie er mit Romanov zusammengearbeitet hatte, dann die Revolution predigte. Die Geschichte von Nikolajs Krankheit hielt er für nicht wahrscheinlich. Sawa hatte auch den rothaarigen Studenten beobachtet, wie er sich in der Nähe der Fabrik herumtrieb; einmal hatte er ihn mit Grigorij zusammen gesehen. Nun verteilte Grigorij plötzlich revolutionäre Flugblätter. Das alles konnte kein Zufall mehr sein. Mit Sicherheit würde die Polizei ohne weiteres eine Verbindung zwischen den beiden feststellen. »Also sind der junge Bobrov und sein Freund Revolutionäre«, murmelte er. Er könnte sie ins Gefängnis bringen; das wäre seine letzte, eine schreckliche Rache.
Mischa Bobrov war vom Besuch des Fabrikbesitzers tatsächlich überrascht. Zufällig hatte Nikolaj sich an diesem Tag wegen Kopfschmerzen ins Bett zurückgezogen;
Weitere Kostenlose Bücher