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Russka

Russka

Titel: Russka Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edward Rutherfurd
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schüttelte er den Kopf. »Anscheinend hat die Behandlung nicht gewirkt, und die Wahnideen haben sich wieder eingestellt.« Er hob die Hand und ließ sie hilflos wieder fallen. »Eine Familientragödie. Wir können nur für seine baldige Genesung beten.« Höflich wandte Mischa sich an den Dorfältesten: »Vielleicht würden Ihre Leute mir helfen, ihn ins Haus zu bringen.«
    »Wir werden ihn verhaften, Herr«, begann der Älteste unschlüssig. »Mein guter Mann«, gab Mischa scharf zurück, »er braucht keine Polizisten, sondern einen Arzt.«
    Der Älteste zögerte. Die Menge wurde unruhig. Da tönte plötzlich Arinas Geplapper aus dem Hintergrund: »Als Kind hat er schon solche Anfälle gehabt. Ich dachte, er habe sie inzwischen hinter sich.«
    Ein Gemurmel erhob sich. Das erklärte alles; kein Wunder, daß das Benehmen des jungen Mannes so merkwürdig war. Nur der Dorfälteste blickte nachdenklich vor sich hin. »Trotzdem muß ich der Polizei Bericht erstatten, mein Herr«, sagte er leise. »Das wird nicht nötig sein«, erwiderte Mischa ebenso leise. »Der Junge ist harmlos, und ich möchte nicht, daß er sich aufregt.« Dann fuhr er mit einem Seitenblick fort: »Kommen Sie morgen zu mir, dann sprechen wir darüber.«
    Der Älteste nickte. Sie waren sich einig, daß dabei eine gewisse Summe den Besitzer wechseln würde. Kurz darauf führten zwei Männer, zusammen mit Bobrov und Timofej, Nikolaj weg. Der schwieg. Was hätte er auch tun sollen? Die Gleichgültigkeit der Bauern am ersten Tag war ein Schock für ihn gewesen, aber daß sie ihn nun hatten verhaften wollen… Er konnte es nicht fassen. Und jetzt, dachte er unglücklich, glauben sie tatsächlich, daß ich verrückt bin. Er ließ den Kopf hängen. Vielleicht bin ich's ja wirklich. Er fühlte sich seltsam leer, unfähig, irgend etwas zu tun. Schweigend gingen sie den Hügel hinauf.
    Auf halbem Weg kam Timofej Romanov plötzlich ein Gedanke. Er wandte sich an Mischa Bobrov. »Der andere junge Mann, Herr, der ruhige, der mit Ihrem Sohn gekommen ist. Ist er vielleicht Arzt?«
    Bobrov lächelte schief. »So etwas wie ein Arzt, ja«, murmelte er. In der geschützten Atmosphäre des eigenen Hauses geriet Mischa Bobrov außer sich. Die beiden jungen Männer standen vor ihm; sie dachten gar nicht daran, sich zu rechtfertigen. »Sie, mein Herr, halte ich für ebenso verantwortlich«, schrie Mischa Popov an. »Woran immer Sie glauben mögen – Sie haben meine Gastfreundschaft mißbraucht. Und du«, er wandte sich an Nikolaj, »du hast die Bauern aufgestachelt, deine eigenen Eltern anzugreifen. Hast du nichts dazu zu sagen?«
    Nikolaj sah bleich und erschöpft aus. Bei Popov konnte man unmöglich wissen, was er dachte.
    »Ihr beide habt mich belogen mit diesen Geschichten, ihr wolltet Folklore sammeln«, fuhr Mischa wütend fort. »Und dabei wagt ihr noch, mir Moral zu predigen!«
    Popov lachte. »Armer Michail Alexejevitsch. Was für ein Dummkopf Sie doch sind!« Er seufzte. »Aber ihr liberch seid alle gleich. Ihr redet über Freiheit und Reformen. Ihr preist eure lächerlichen zemstvos. Nichts als Lüge – ein schmutziger kleiner Kompromiß, um an eurer eigenen Macht, an eurem Reichtum festzuhalten. Wir wissen: Ihr seid schlimmer noch als der Autokrat, denn ihr wollt die Leute zu der Idee verleiten, es gehe aufwärts mit ihnen. Aber man wird euch vernichten. Der Gang der Geschichte ist nicht aufzuhalten.«
    »Eure Revolution wird alles vernichten – den Zaren und die Landbesitzer – für das Wohl der Bauern?«
    »Für das Allgemeinwohl.«
    »Würdet ihr den Bauern sagen, sie sollen die Landbesitzer töten?«
    »Wenn es nötig ist.«
    »Aber die Bauern folgen euch nicht. Fast hätten sie Nikolaj verhaftet.«
    »Die Bauern sind politisch noch nicht reif. Sie wissen nichts vom Allgemeinwohl. Sie müssen erst noch erzogen werden.«
    »Von euch?«
    »Von den neuen Männern.«
    »Die genau wissen, was gut für sie ist. Das bedeutet also, daß die neuen Männer uns allen überlegen sind. Sie, Popov, sind so eine Art Übermensch.«
    Popov lächelte leise. »Vielleicht.«
    Mischa nickte zornig. »Sie werden uns morgen früh verlassen. Beim Morgengrauen. Und du«, wandte er sich an Nikolaj, »bleibst vorläufig im Haus. Deine ›Nervenkrankheit‹ ist das einzige, was dich vor der Polizei schützt.«
    »Ich bleibe noch eine Zeitlang hier«, erklärte Jevgenij unbeeindruckt.
    »Sie tun das, was ich Ihnen sage, und verlassen das Haus in aller Frühe«, entgegnete Mischa

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