Russka
sich, obwohl erst einundvierzig Jahre alt, längst an die angenehme Vorstellung gewöhnt, daß es fast nichts gab, was er nicht hätte bekommen können – durch Geld oder andere Mittel.
Nicht nur Nikolaj war vom ersten Augenblick beeindruckt, der imposante Mann hatte im Nu alle für sich eingenommen. Nikolaj behandelte er unverzüglich als einen vertrauenswürdigen Genossen. Mischa gegenüber verhielt er sich höflich und fürsorglich. »Sie haben so viel getan, lieber Freund. Es ist Zeit, daß die jüngere Generation einen Teil der Last übernimmt. Aber ich weiß, daß Sie auf uns alle ein wachsames Auge haben werden. Hier ist eine Nachricht vom Provinzgouverneur«, fügte er hinzu. »Die Regierung will Getreide verteilen. Es wird von der Ukraine geliefert, und wir bekommen es in einem Monat. Wie Sie wissen, haben wir noch für etwa acht Wochen Vorräte. Ich werde selbst mit dem Gouverneur sprechen, damit nichts schiefgeht.«
Vladimir hatte es sich inzwischen auf einem Sessel bequem gemacht.
Nun begann er, einiges über sich zu erzählen. Seine erste Frau war gestorben, aus der zweiten Ehe hatte er einen Sohn. Für gewöhnlich befand er sich zwei Monate des Jahres auf Reisen. Er kannte Paris ebenso gut wie Moskau. Er kannte Künstler wie Renoir und Monet persönlich wie auch den berühmten Schriftsteller Tolstoj, dessen Besitz, Jasnaja Poljana, er vor einiger Zeit besucht hatte. Auch mit Tschaikovskij war er bekannt. Vladimirs Welt war die glitzernde Welt der Literaten, überfüllter Salons, Kennerschaft und kluger Protektion – eine Welt, in die eine hohe Stellung oder großer Reichtum Einlaß verschafften, wo jedoch nur Begabung und außergewöhnliche Persönlichkeit geduldet wurden. Selbstverständlich war Suvorin obendrein ein großartiger Geschäftsmann. Nikolaj erfuhr weiterhin etwas über die Arbeit, die die zemstvos in den vergangenen Monaten geleistet hatten. »Ohne Ihren Vater wäre die örtliche Lebensmittelverwaltung zusammengebrochen«, erklärte Vladimir ganz offen. »Die Leute des zemstvo halten in Stadt und Land die Dinge zusammen, nicht die Zentralregierung.« Nachdem er gegangen war, bemerkte Mischa bewundernd: »Gott sei Dank haben wir ihn auf unserer Seite. Die Behörden wagen es nicht, seine Stimme zu ignorieren.«
Zu ebendieser Zeit war in der isba Timofej Romanovs ein heftiger Disput im Gange. Die Streitenden waren die alte Arina und Boris. Timofej und seine Frau sagten wenig; der Gegenstand dieses Streits, das siebzehnjährige Mädchen, die Namensschwester ihrer Großmutter, wurde überhaupt nicht gefragt. »Das kann man nicht machen«, schrie Boris ziemlich laut. »Diese Leute sind unsere Feinde, ihr seid nur alle zu dumm, um das zu begreifen. Außerdem soll sie hier ihren Eltern helfen.« Doch die alte Arina blieb hart. »Wir hätten einen Mund weniger zu füttern«, meinte Timofejs Frau schließlich. »Lieber verhungern«, knurrte Boris.
Die Jahre, seit Natalia bei dem Brand einen tragischen Tod gefunden hatte, hatten Boris Romanovs Gefühle keineswegs gemildert. Im Gegenteil: Mit der Zeit wurde seine Vorstellung, die Bobrovs und der gesamte Landadel hätten sich gegen ihn verschworen, immer zwingender. Zehn Jahre zuvor etwa war das Gerücht im Umlauf, die Regierung werde die Zahlungen der Bauern an ihre früheren Besitzer endlich abschaffen, doch kündigte die Verwaltung schließlich nur eine Senkung um klägliche fünfundzwanzig Prozent an. Boris sah darin den klaren Beweis einer Verschwörung gegen ihn. Und als während der Hungersnot Timofej auf das gute Werk Mischa Bobrovs hinwies, war Boris' verächtliche Antwort: »Was dieser alte Verbrecher kann, kann ein ehrlicher Bauer schon längst.«
Die Entscheidung der Großmutter, Arina solle in den Haushalt der Bobrovs gehen, machte ihn deshalb wütend. Da jedoch Timofej, das Familienoberhaupt, nicht in der Lage war, der entschlossenen alten Frau zu widersprechen, konnte auch Boris nichts unternehmen. Die Alte war unerbittlich. Es war erstaunlich, welch ein starker Wille in diesem kleinen Körper wohnte; merkwürdig auch, wie sich durch ihren Entschluß, das Überleben der Familie zu sichern, all ihre Gedanken von der geliebten Tochter weg auf die nächste Generation konzentrierten. »Ich spreche mit ihnen; sie werden sie aufnehmen«, sagte sie ruhig.
Vladimir Suvorin hatte die Bobrovs gerade verlassen, als Arina und das Mädchen die Familie Bobrov aufsuchte. Die Alte brauchte nicht viel zu sagen, Anna Bobrov verstand sogleich.
Weitere Kostenlose Bücher